[Von Prof. Dr. Bernhard Maier, Professor für Allgemeine Religionswissenschaft und Europäische Religionsgeschichte an der Universität Tübingen]
Die kirchlichen Umbrüche des 16. Jh. hatten in England eine 200-jährige Vorgeschichte. Innen- und außenpolitische Konflikte, Pest und Wirtschaftschaos bereiteten äußerlich den Boden für Neuansätze. Doch auch eine dringend nötige innere Erneuerung des Christentums setzte unaufhaltsam ein.
Als der englische König Edward III. 1340 mit einem Heer in Frankreich einfiel, um seinen Anspruch auf den französischen Thron durchzusetzen, begann eine lange Reihe militärischer Auseinandersetzungen, an deren Ende die endgültige politische Trennung Englands von Frankreich, die Ablösung der anglonormannischen Sprache durch das Mittel- und Frühneuenglische und nicht zuletzt die Ausbildung eines spezifisch englischen Nationalbewusstseins stehen sollte. Für weite Teile der Bevölkerung bedeuteten die anglofranzösischen Kriege indessen zugleich eine gewaltige Zunahme finanzieller Belastungen, die sich seit 1348 durch den Bevölkerungsrückgang nach dem Ausbruch der Pest, aber auch durch wirtschaftliche Umwälzungen infolge der Ausweitung überregionaler Handelsbeziehungen und einer Zunahme der Geldwirtschaft derart verschärfte, dass es 1381 zu einem großen Bauernaufstand kam.
Der „William der Reformation“
In religiöser Hinsicht spiegelten sich die gesellschaftlichen Spannungen, eine weitverbreitete Verunsicherung und zunehmende Unzufriedenheit mit der bestehenden Ordnung, in der Zustimmung, die den Predigten und Schriften des Geistlichen John Wycliff entgegenschlug. Zu seinen Forderungen gehörte die Unterordnung der geistlichen unter die weltliche Macht und eine Rückkehr zur Anspruchslosigkeit der Urkirche, die Abkehr von der Heiligen- und Reliquienverehrung, eine Beschneidung der Vorrechte des Papstes, die Abschaffung des Zölibats, die Ablehnung der Transsubstantiationslehre und eine Förderung der allgemeinen Bibelkenntnis durch die Bereitstellung volkssprachlicher Übersetzungen. Auch Jahrzehnte nach Wycliffs Tod 1384 fanden viele dieser Forderungen weithin Anklang. Verbreitet wurden sie von seinen mehrheitlich im Untergrund aktiven Anhängern, die man mit einer wohl aus dem Niederländischen stammenden Bezeichnung als Lollarden ( Lollards) bezeichnete und als Ketzer verfolgte. 1410 wurde der Handwerker John Badby wegen seiner Ablehnung der katholischen Abendmahlslehre auf dem Scheiterhaufen verbrannt, und regional begrenzte Maßnahmen gegen die Anhänger Wycliffs sind noch bis in die erste Hälfte des 16. Jh. immer wieder bezeugt.
Sprachen die Lehren Wycliffs viele Menschen an, die keinerlei Universitätsbildung besaßen, so erhoben sich doch immer wieder auch innerhalb der akademischen Theologie Stimmen, die grundlegende Reformen in der Kirche anmahnten. Eine wichtige Rolle spielte dabei der Humanismus mit seiner Forderung nach einer kritischen Sichtung historischer Quellen und einer Rückkehr zu den Ursprüngen. Ein Vorreiter dieser Bewegung in England war der gebürtige Londoner John Colet (1467– 1519), der nach Studien in England, Frankreich und Italien sowohl als Dekan an der Londoner St. Paul’s Cathedral als auch an der Universität Oxford tätig war. Weitere wichtige Vertreter der humanistischen Bewegung waren der aus Nordengland stammende John Fisher (1469–1535), der seit 1504 das Amt des Kanzlers an der Universität Cambridge bekleidete und später zum Hofkaplan aufstieg, sowie der Jurist und spätere Lordkanzler Thomas More (1478–1535). Die Geburt der anglikanischen Staatskirche Seit 1509 regierte Henry VIII., dessen Vater Henry VII. die noch junge Tudor-Dynastie erst 1485 nach einem langjährigen Bürgerkrieg begründet hatte. Als Martin Luthers öffentliches Eintreten gegen den Ablasshandel 1517 den Beginn der Reformation in Deutschland einleitete, stieß die lutherische Theologie beim englischen König und seinen Beratern zunächst auf scharfen Widerspruch. So wurde Henry VIII. noch 1522 für seine Streitschrift gegen Luthers Sakramentenlehre vom Papst mit dem Titel „Verteidiger des Glaubens“ (Defensor Fidei) ausgezeichnet. Als der Papst sich jedoch weigerte, Henrys kinderlose Ehe mit der Witwe seines verstorbenen Bruders zu annullieren, brach Henry mit Rom und ließ sich 1534 in der sogenannten Suprematsakte vom Parlament zum Oberhaupt der Kirche in England ernennen. Der Umstand, dass theologische Gesichtspunkte bei dieser Initialzündung der Reformation in England eine gleichsam nachgeordnete Rolle spielten, private und politische Gesichtspunkte im Vordergrund standen und wichtige Impulse vom König selbst ausgingen, bestimmte auch den weiteren Verlauf der Entwicklung, deren Stoßrichtung oder gar Ende für die Zeitgenossen kaum vorhersehbar gewesen sein dürfte. Auf der einen Seite veranlasste Henry VIII. zwischen 1536 und 1538 die Auflösung und Enteignung sämtlicher Klöster, was nicht nur mit der Umverteilung ihres enormen Besitzes, sondern auch mit drakonischen Maßnahmen gegen die Bilderverehrung und das Pilgerwesen einherging. Auf der anderen Seite bekannte sich der König 1539 zur Transsubstantiationslehre, dem Priesterzölibat und dem traditionellen Brauch der Totenmesse. Hatte Henry VIII. noch 1536 dafür gesorgt, dass der Bibelübersetzer William Tyndale auf der Flucht in Belgien verhaftet und zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt wurde, so autorisierte er nur zwei Jahre später den Druck der nach ihrem großen Format sogenannten Great Bible, die nach seinem Wunsch alle Gemeinden sämtlichen Mitgliedern zugänglich machen sollten.
Nach dem Tod Henrys VIII. gelangte 1547 sein erst neunjähriger Sohn Edward VI. auf den Thron, unter dessen Regierung ein Regentschaftsrat die protestantische Reformation nach Kräften zu fördern suchte. So entstanden 1547 das erste Book of Common Prayer als Grundlage der anglikanischen Liturgie und 1553 die sogenannten Zweiundvierzig Artikel, mit denen sich die anglikanische Kirche theologisch sowohl vom Katholizismus als auch vom Calvinismus abgrenzte. Einen Rückschlag erlitten diese Bemühungen, als nach Edwards frühem Tod entgegen anderen Planungen seine Halbschwester Mary zur Nachfolgerin gekrönt wurde. Als Tochter Henrys VIII. und seiner ersten Frau Katharina von Aragon, unternahm Mary I. große Anstrengungen, den Katholizismus erneut als Staatsreligion zu etablieren. Unter ihrer Regierung wurden zahlreiche führende Protestanten als Ketzer verurteilt und verbrannt. Gleichwohl konnte die Königin während ihrer nur fünfjährigen Herrschaft das Rad der Geschichte nicht mehr zurückdrehen, da eine flächendeckende Versorgung der Gemeinden mit katholischen Geistlichen nicht von heute auf morgen zu bewerkstelligen war, viele Ideen der Reformation in weiten Teilen der Bevölkerung Fuß gefasst hatten und zahlreiche Abgeordnete des englischen Parlaments ihre Pläne einer Rückgabe des Kirchenbesitzes aus Eigeninteresse rundweg ablehnten.
Nachdem Mary I. im November 1558 wahrscheinlich an Unterleibskrebs verstorben war, wurde im Januar 1559 ihre Halbschwester Elizabeth, die Tochter Henrys VIII. und seiner zweiten Ehefrau Anne Boleyn, zur Königin gekrönt. Bereits vier Monate später verabschiedete das Parlament eine Neufassung der Suprematsakte von 1534, die Mary I. 1553 hatte außer Kraft setzen lassen. Darin wurde der Anspruch des englischen Monarchen auf eine Führungsrolle als Supreme Governor oder Oberhaupt der Kirche in England erneut und in einer bis heute gültigen Formulierung festgeschrieben. Zugleich wurde in der sogenannten Uniformitätsakte eine leicht überarbeitete Neufassung des Book of Common Prayer erneut als allgemein verbindlich eingeführt. In einer Weiterentwicklung der Zweiundvierzig Artikel von 1553 wurden wesentliche Glaubensaussagen der anglikanischen Kirche unter der Federführung des Erzbischofs von Canterbury, Matthew Parker, noch einmal zusammengestellt und 1571 als Neununddreißig Artikel vom Parlament für alle kirchlichen Würdenträger verpflichtend gemacht. Im Hinblick auf Kirchenorganisation, Theologie und Liturgie steuerte Elizabeth einen Kurs, der von späteren Generationen immer wieder als via media oder „Mittelweg“ zwischen katholischen und reformierten Positionen bezeichnet wurde.
Die Reformation in Englands Umfeld
Für den weiteren Verlauf der Reformation in England waren indessen auch die Entwicklungen in den Nachbarländern der Britischen Inseln von Belang. Wales wurde zwischen 1536 und 1543 im Einklang mit den Bemühungen Henrys VIII. um eine Stärkung der Zentralgewalt faktisch annektiert, wobei man englisches Recht auch für die Bewohner von Wales verbindlich machte und die walisische Sprache aus dem öffentlichen Leben verbannte. Da sich Elizabeth I. jedoch eben darum genötigt sah, die Reformation auch in Wales durchzusetzen, verfügte sie 1563 vollständige Übersetzungen der Bibel und des Book of Common Prayer, die zwischen 1567 und 1588 unter der Federführung des Humanisten William Salesbury und des Bischofs von St. Asaph William Morgan herausgegeben wurden und die weitere Entwicklung der Reformation in Wales maßgeblich prägten. Für das noch immer nur zum kleineren Teil unterworfene Irland erstrebte Henry VIII. ebenfalls eine territoriale und politische Neuordnung, weshalb er 1541 den neu geschaffenen Titel „König von Irland“ annahm. Gleichwohl gelang es der englischen Krone nie, die Reformation unter der mehrheitlich katholischen und irischsprachigen Bevölkerung durchzusetzen. Seit dem Regierungsantritt Elizabeths I. verfolgte man daher in zunehmendem Maße eine Politik der Kolonisierung, in deren Folge aufständische katholische Iren enteignet und mithilfe von Zwangsansiedlungen systematisch durch loyale englische und später auch schottische Siedler ersetzt wurden.
Sprengstoff in Kirche und Politik
Als Elizabeth I. 1603 unverheiratet und kinderlos starb, wurde der schottische König Jakob (James) VI., der Enkel einer Schwester Henrys VIII., ihr Nachfolger, so dass England und Schottland nunmehr in Personalunion miteinander verbunden waren. In Jamesʼ Auftrag entstand die nach ihm benannte King James Bibel, die als Authorized Version oder autorisierte Fassung erstmals 1611 veröffentlicht wurde und bis heute die mit Abstand einflussreichste englische Bibelübersetzung darstellt. Für wie real man mancherorts die Möglichkeit einer Rückkehr Englands zum Katholizismus zu diesem Zeitpunkt jedoch immer noch hielt, zeigt nicht zuletzt der Umstand, dass der König und das englische Parlament 1605 nur knapp einem verheerenden Sprengstoffattentat entgingen, das der Katholik Guy Fawkes und einige Mitverschwörer geplant und vorbereitet hatten. Darüber hinaus kam es unter Jamesʼ Sohn und Nachfolger Charles I. zu einem massiven Konflikt zwischen König und Parlament, in dem die verschiedenen Parteien auch unterschiedliche religiöse Positionen bezogen. Im Bürgerkrieg zwischen den Anhängern des Königs und denen des Parlaments besiegte das Parlamentsheer unter Oliver Cromwell die mit dem König verbündeten Schotten und setzte 1649 die Hinrichtung des Königs und Ausrufung einer stark calvinistisch geprägten Republik durch. In seinen letzten Lebensjahren regierte Oliver Cromwell wie ein absoluter Herrscher, doch konnte sein Sohn und Nachfolger diese Stellung nicht halten, sodass das Parlament 1660 den Sohn des hingerichteten Königs aus dem französischen Exil zurückrief und als Karl II. wieder zum Monarchen einsetzte. Als der König 1685 starb, geriet sein Bruder und Nachfolger James II. jedoch infolge seiner prokatholischen und profranzösischen Politik erneut in Konflikt mit dem Parlament, das ihn 1688 absetzte und den mit Jamesʼ ältester Tochter Mary verheirateten William von Oranien zur Übernahme der Herrschaft nach England rief. Bei dem Versuch, von Irland aus den Thron zurückzugewinnen, erlitt James II. 1690 mit seinem aus katholischen Iren und Franzosen zusammengesetzten Heer in der Schlacht an der Boyne eine entscheidende Niederlage und floh daraufhin ins Exil.
Um jedem Versuch einer Rekatholisierung zuvorzukommen, verabschiedete das englische Parlament unter der Regierung von Williams Nachfolgerin Anne 1701 den so genannte Act of Settlement, der das Recht der Thronfolge auf die protestantischen Nachkommen der Königin beschränkte und Katholiken wie auch deren Ehepartner automatisch ausschloss. Außerdem wurde 1707 das schottische Parlament mit dem englischen vereinigt und die seit 1603 bestehende Personalunion der beiden Länder damit in eine Realunion überführt. Schon im Mai 1689 hatte eine vom Parlament verabschiedete Toleranzakte den sogenannten Nonkonformisten, die sich der anglikanischen Staatskirche nicht anschließen wollten, eine begrenzte Religionsfreiheit gewährt. Mit der Entstehung des Königreichs Großbritannien, das erst 1800 durch die Union mit Irland noch einmal erweitert werden sollte, gelangte die Reformation in England zu einem gewissen Abschluss.