Das fatale Schweigen über verfolgte Christen
31.10.2025 Von Gideon Böss in WELT plus [online]
Keine Religion zahlt weltweit einen so hohen Blutzoll wie das Christentum. Aber darüber wird kaum gesprochen. Offenbar lesen es viele als „weiße Konfession“ – und schon hat sich die Empathie erledigt.
Viele Menschen denken bei Christenverfolgung an das alte Rom. An die Katakomben, in denen sie sich heimlich trafen, an Arenen, in denen sie von wilden Tieren zerfleischt wurden, und an Gekreuzigte an den Rändern der Via Appia. Bis heute verehrt die katholische Kirche zahlreiche Märtyrer, die damals wegen ihres Glaubens getötet wurden. An erster Stelle steht dabei der Apostel Petrus, der in Rom hingerichtet wurde und dem Jesus anvertraut hatte: „Du bist Petrus, und auf deinem Felsen will ich meine Kirche bauen.“ Was deutlich weniger Menschen wissen, ist die Tatsache, dass sich die Christenverfolgung nicht auf alte Zeiten beschränkt. Weit über 300 Millionen Menschen werden heute verfolgt, weil sie an Jesus Christus glauben. Das sind 15 Prozent aller Christen auf der Welt. In Ländern wie Nigeria oder dem Kongo finden regelrechte Genozide statt, die von islamistischen Terrororganisationen wie Boko Haram durchgeführt werden. Aber auch in Ländern, in denen die Schwelle zur offenen Gewalt nicht überschritten wird, leben Christen oft unter Schikanen, unter Willkür und in Angst. Fast alle Länder, in denen Christen unterdrückt werden, verfügen über muslimische Bevölkerungsmehrheiten und definieren sich selbst als muslimisch. Keine Religion hat derzeit einen so hohen Blutzoll zu zahlen wie das Christentum. Umso erstaunlicher ist es, wie in der deutschen Öffentlichkeit über diese Religion gesprochen wird. Von Empathie und Sorge keine Spur, stattdessen herrscht Misstrauen.
So steht für den „Spiegel“ alle paar Jahre eine christliche Machtergreifung in den USA an, die selbstverständlich von „Gotteskriegern“ durchgeführt wird. Unterlegt werden diese Warnungen mit dramatischen Covern, auf denen sich Politiker mit entrückten Gesichtern um den eigentlichen Fixpunkt des Bildes sammeln: einem überdimensionalen Kreuz. Dieses soll möglichst gefährlich wirken, als wäre das Kreuz das Symbol eines biologischen Kampfstoffs oder einer faschistischen Bewegung – und nicht (für Christen) der Inbegriff des ultimativen Opfers, das Jesus aus Liebe zur Menschheit auf sich genommen hat. Im öffentlich-rechtlichen Rundfunk wiederum taucht das Christentum vor allem auf, wenn es um Missbrauchsskandale geht, um Aussteiger aus irren Jesus-Sekten sowie um die Verkündung der jährlichen Kirchenaustritte. In den Jugendkanälen des ÖRR kommt noch die Beschäftigung mit christlichen Fußballern hinzu, die über ihren Glauben sprechen. Auch in solchen Fällen schwingt immer ein düsterer Unterton mit, als würde jemand für eine unseriöse Versicherung werben. Natürlich kann in den Medien über all das berichtet werden, auch in diesem distanzierenden Ton. Und doch ist genauso unausgewogen, als würde im Kontext Islam nur über Terror und Gewalt berichtet.
Woher kommt diese Einseitigkeit, warum wird die Verfolgung der Christen bei uns medial kaum wahrgenommen? Dabei sind nach der Logik linker Opferpyramiden die meisten der Betroffenen People of Colour und außerdem Bewohner des Globalen Südens. Aber die Opfer sind eben auch Christen, und das Christentum scheint bei uns eine „weiß gelesene Religion“ zu sein, womit im medialen Diskurs Empathie und Interesse am Thema Christenverfolgung weitgehend erledigt sind. Aber auch jenseits linker Medien nimmt das Thema wenig bis keinen Raum ein. Das gilt auch für die Politik und sogar die Kirchen selbst. Zwar rühmen sich die Kirchen ihrer sozialen Arbeit, betonen ihren Einsatz für Flüchtlinge und gegen Rassismus, aber ihre verfolgten Glaubensgeschwister kommen in der Prioritätenliste nicht an erster Stelle. Oft auch nicht an zweiter, dritter oder vierter. Und so kommt es, dass in Deutschland über die am meisten verfolgte Religion der Welt kaum gesprochen wird. Wie kann das sein in einer Zeit, in der angeblich so sensibel auf Unterdrückung und Unrecht geachtet wird? Vermutlich liegt es auch daran, dass die Deutschen ein seltsam widersprüchliches Bild des Christentums haben. Einerseits wird anerkannt, dass christliche Institutionen in der Gesellschaft eine bedeutende Rolle spielen. Andererseits ist unser kulturelles Bild vom Christentum erstaunlich negativ geprägt. Historisch werden mit ihm Hexenverbrennungen verbunden, Religionskriege, Inquisition und Wissenschaftsfeindlichkeit.
All das hat seine Berechtigung, und doch ist es eine Verzerrung. Schließlich baute die Aufklärung auch auf christlicher Moral auf, mittelalterliche Kathedralen gehören zu den beeindruckendsten Bauten der Geschichte, und die Sixtinische Kapelle ist ein achtes Weltwunder an Schönheit. Trotzdem sehen die Deutschen beim Blick in die Vergangenheit eine gewalttätige Religion, die der Inbegriff des finsteren Mittelalters ist. Auch deswegen fällt es offenbar schwer, im Christentum eine Religion zu sehen, deren Anhänger brutal verfolgt werden. Wobei dahinter auch ein seltsam ignoranter Blick auf die Welt steht. So leben mittlerweile mehr Christen in Afrika als in Europa. Und während ein ambitionsloses Christentum in Europa altert und schwindet, ist es in Afrika jung und engagiert. Die Zukunft dieser Religion liegt in Afrika, Asien und Amerika. Wer heute an das Christentum denkt, sollte darum nicht an das europäische Mittelalter denken. Es wird Zeit, die unangemessene Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid abzulegen, das Christen weltweit angetan wird. Diese Gleichgültigkeit ist nicht nur ein Verrat an den verfolgten Menschen, sondern auch an den christlichen Werten, auf denen unsere westliche Welt aufbaut.




