Der archäologische Beleg für das biblische Kyrus-Edikt?
29.01.2025 Der Kyrus-Zylinder mit der berühmten Inschrift aus dem Jahr 530 vC
Im März 1879 fanden die Arbeiter um Hormuzd Rassam auf dem Gelände der antiken Stadt Babylon das Fragment eines beschrifteten Tonzylinders. Der persische König Kyrus der Große verkündet in der Inschrift, Gott Marduk habe ihn erwählt, um die Welt zu retten und die verschleppten Götter und ihre Völker zu befreien. Ist das ein Hinweis auf das berühmte Edikt in der Bibel, mit dem Kyrus den verbannten Juden die Heimkehr aus Babylon gestattete?
Hormuzd Rassam, der ehemalige Assistent des britischen Archäologen Austen Henry Layard, hat guten Grund zur Freude. Im Jahr 1876 wird der Großbritannien treu ergebene arabische Christ aus Mossul im Alter von 50 Jahren zum Leiter der Ausgrabungen des Britischen Museums in Mesopotamien ernannt. Damit folgt er George Smith nach, jenem brillanten Orientalisten, der die von Layard in Ninive gefundene Sintflut-Tafel entziffert hat. Als Rassam mit seiner Arbeit beginnt, werden in den Antiquitätengeschäften in Bagdad und Hilla Keilschrift-Tontafeln in Hülle und Fülle angeboten. Neugierig versucht Rassam, ihre Herkunft zu erkunden. Auf den ersten Blick weist alles auf Tell Babil hin, eine weitläufige Stätte in der Nähe der Stadt Hilla. Der Name deutet auf die berühmte Stadt Babylon hin, Hauptstadt des Reiches, das von Hammurabi im 8. Jh. vC gegründet und von König Nebukadnezzar sechs Jahrhunderte später zu großer Blüte geführt worden war. Außerdem war man an diesem Ausgrabungsort bereits früher gelegentlich fündig geworden.
Am Tell Babil befand sich im Wesentlichen Steinarchitektur, zwar von beeindruckender Größe, aber auch recht nüchtern im Vergleich zu den prunkvollen assyrischen Palästen in Ninive und Nimrud. Mit Bedacht trifft Rassam eine Abmachung mit den Arbeitern, die von den Ausgrabungen leben müssen. Als Austausch für die antiken Funde, die sie ausgraben, bietet er ihnen u. a. ein festes Gehalt an. Möglicherweise aufgrund eines Hinweises nimmt sich der Ausgräber zwei kleine Erhebungen, Tell Jumjuma und Tell Amran, vor, die sich südlich vom Haupt-Tell befinden. Die Zusammenarbeit mit den Arbeitern erweist sich als erfolgreich. Bald kann Rassam eine Reihe von antiken Tontafeln nach London schicken. Doch zeigt er darüber hinaus kein großes Interesse für die Monumente, aus denen die Funde stammten. Unter dem Tell Amran wird später der deutsche Archäologe Robert Koldewey, der die Ausgrabungen 1899 wieder aufnimmt, die Überreste des großen Tempels von Marduk entdecken, dem Schutzgott Babylons und seines Reiches.
Rückkehr der Verbannten und ihrer Götter Am Ende der zweiten Kampagne Rassams im Februar/März 1879 ist Henry Rawlinson, der berühmte Entzifferer der Keilschrift, dabei, als im Britischen Museum ein großes Tonzylinderfragment mit 35 Zeilen Text ankommt. Obwohl die Beschriftung unvollständig ist, kann der Assyriologe mühelos den Inhalt und den Verfasser identifizieren: Es handelt sich um eine offizielle Deklaration von Kyrus dem Großen, kurze Zeit nachdem er Babylon im Jahr 539 vC eingenommen hat. Nachdem Kyrus die Nichtachtung von Babylons Stadtgott Marduk durch den letzten babylonischen König Nabonid angeprangert hat, rühmt sich der persische König, er sei von Marduk auserwählt worden, um sich die Welt zu unterwerfen. Als Befreier der Stadt empfangen, so sagt der Zylinder, setzte Kyrus sogleich die Gottheit wieder in ihre Rechte ein und vollbrachte alle Arten von frommen Werken.
So liest Rawlinson mit Erstaunen, dass der Eroberer in einigen Städten Mesopotamiens und benachbarten Gegenden die zuvor nach Babylon verschleppten Götterstatuen wieder in ihre ursprünglichen Heimat-Heiligtümer eingesetzt und die nach Babylon deportierten Bevölkerungsgruppen zurückkehren ließ. Der Zylinder bietet also eine historische Parallele zum berühmten, in der Bibel zitierten Kyrus-Edikt (Esra 1,1-4), das den deportierten Juden das „Rückkehrrecht“ aus der „Babylonischen Gefangenschaft“ nach Jerusalem gewährte. Schließlich entdeckt der Wissenschaftler mit Erstaunen, dass Kyrus als Anhänger des iranischen Gottes Ahuramazda den Verehrern der vielen babylonischen Gottheiten dieselbe Toleranz gewährte wie den israelitischen JHWH-Gläubigen. Rawlinson stellt sogar eine erstaunliche Ähnlichkeit fest zwischen den Ausdrücken, die die Gunsterweisung Marduks gegenüber Kyrus beschreiben, und einigen biblischen Sätzen wie zum Beispiel: „Ich habe dich beim Namen gerufen“ oder „Ich selbst gehe vor dir her und ebne die Berge ein“ (Jes 43,1 und 45,2). Und er zieht daraus die Schlussfolgerung: „Es ist beinahe so, als kannte der Verfasser des Zylinders die Jesajaworte und habe sie auf den Gott seiner eigenen Religion übertragen!“
Hängen Kyrus-Zylinder und biblischer Text zusammen?
Andere nach ihm bezweifeln, ob die literarische Anleihe wirklich in diese Richtung geht. Umso mehr, als neue assyrische und babylonische Inschriften in Keilschrift bald überzeugendere Modelle für den Zylinder offenbaren: Die Proklamation des Kyrus ist deutlich von der üblichen Eroberungsrhetorik der mesopotamischen Herrscher inspiriert. Jene bekräftigen ebenfalls ihre Legitimität, indem sie verkünden, sie seien vom jeweiligen lokalen Gott erwählt und würden über die Kontinuität des Kultes in den eroberten Gebieten wachen. Jene sagen ebenfalls, dass sie die Götter zurückgeführt und die Gefangenen befreit hätten. Die Entdeckung eines zweiten Zylinder-Fragments im Jahr 1972, das seit dem 19. Jh. im Museum von Yale (USA) aufbewahrt wird, bestätigt die Einschätzung in diese Richtung: In den zehn Zeilen präsentiert sich Kyrus in der Tat als Nachfolger des assyrischen Herrschers Assurbanipal (668–625 vC).
Aber wenn, so ließe sich fragen, die Proklamation des Kyrus nur eine an die damaligen Gepflogenheiten angepasste Rede ist, wie steht es dann um ihre historische Glaubwürdigkeit? Vor allem, was die Leser der Bibel interessiert, im Zusammenhang mit der Rückkehr der Deportierten und ihrer Gottheiten? Das gab Anlass zu kontrovers geführten Diskussionen. Wahrscheinlich liegt die Antwort irgendwo zwischen historischer Wahrheit und Fiktion: Nichts weist darauf hin, dass die Maßnahme des Kyrus das Gebiet und die babylonischen Provinzen, die auf dem Zylinder genannt werden, überschritten hat. Die Archäologie hat auch keine Spuren der Restauration gefunden, die dem persischen König zugeschrieben werden können. Haben die Juden möglicherweise den Text des Zylinders gekannt und sich davon inspirieren lassen, ein fiktives Edikt zu verfassen? Dies kann zunächst einmal verneint werden, denn die Priester des Marduk hatten den Zylinder rituell in den Fundamenten des Tempels vergraben. Und dennoch, die Entdeckung zweier Fragmente von Archivtafeln in den Lagern des Britischen Museums im Jahr 2010 zeigt, dass Kopien des Textes von der persischen Verwaltung aufbewahrt wurden. Andererseits gibt es keinen Anlass dafür, auszuschließen, dass Kyrus tatsächlich die Rückkehr der Juden anwies, falls es seiner Politik diente. Allerdings besteht eine ziemliche Einigkeit bei den Historikern, dass die Person des toleranten und großmütigen Königs, wie sie insbesondere im Buch Esra vermittelt wird, dem Reich der Legende angehört und auf den Erfolg seiner Propaganda zurückzuführen ist.
Aus der Inschrift des Kyrus-Zylinders:
„Von [Babylon] bis Assur und Susa, Akkad, dem Land von Ešnunna, Zamban, Mēturnu, Dēr bis zum Grenzgebiet von Gutium, zu den Kultstä[dten jenseit]s des Tigris, deren Wohnung seit Langem darniederlag, brachte ich die Götter, die in ihnen gewohnt hatten, an ihren Ort zurück und ließ (sie) eine ewige Wohnung aufschlagen. Alle ihre Menschen holte ich zusammen und brachte sie an ihre Wohnstätten zurück.“
Das Kyrus-Edikt in der Bibel:
„So spricht der König Kyrus von Persien: Der Herr, der Gott des Himmels, hat mir alle Reiche der Erde verliehen. Er selbst hat mir aufgetragen, ihm in Jerusalem in Juda ein Haus zu bauen. Jeder unter euch, der zu seinem Volk gehört – sein Gott sei mit ihm –, der soll nach Jerusalem in Juda hinaufziehen und das Haus des Herrn, des Gottes Israels, aufbauen; denn er ist der Gott, der in Jerusalem wohnt.“ (Esra 1,2-3)