Der evangelischen Kirche ist bald nichts mehr heilig
Hannah Bethke in WELT+ online am 22.02.2024
Die Landeskirche im Rheinland verabschiedet sich vom Sonntagsgottesdienst. Eigentlich müsste das ein Beben auslösen, doch die religiöse Indifferenz hat die Protestanten längst selbst erfasst. Vor lauter Sorge, den Anschluss an die moderne Gesellschaft zu verpassen, gibt sie ihren Glauben preis.
Die evangelische Kirche gibt sich selbst auf
Diesen Eindruck gewinnt man nicht nur durch den Missbrauchsskandal, dessen Tragweite erst jetzt, Jahrzehnte nach den Taten, richtig klar wird. Die desaströse Lage der Kirche zeigt sich auch in der systematischen Verweltlichung, die in ihren eigenen Reihen stattfindet. Dabei ist sie nicht nur Leidtragende einer fortschreitenden gesellschaftlichen Säkularisierung; sie treibt ihre Entkirchlichung selbst in ungeheurem Ausmaß voran. Schon seit Jahren zeichnet sich in den kircheninternen Entwicklungen ab, was nun beschlossene Sache ist: Die erste evangelische Landeskirche in Deutschland schafft den Sonntagsgottesdienst ab.
Diese Nachricht müsste eigentlich ein Beben auslösen. Aber als die Landessynode der Evangelischen Kirche im Rheinland (EKiR) ihre Reform der „Lebensordnung“ vor einigen Wochen verkündete, passierte – gar nichts. Medial interessierte dieser drastische Vorgang, wenn überhaupt, nur am Rande, und die sonst so empörungswillige politische Öffentlichkeit blieb weitgehend stumm. Man kann daraus nur ableiten: Die Gesellschaft hat die Kirche abgeschrieben. Aber zur bitteren Wahrheit gehört auch: Die Protestanten tragen dazu selbst sehr viel bei. Die EKiR ist die zweitgrößte evangelische Landeskirche in Deutschland, sie umfasst fast 2,2 Millionen Gemeindemitglieder und hat im Kirchengebiet eine hohe Relevanz. Vom 1. März dieses Jahres an muss der Gottesdienst hier also nicht mehr am Sonntag stattfinden, sondern kann – wenn der Kreissynodalvorstand zustimmt – regelmäßig an jedem anderen beliebigen Wochentag ausgerichtet werden. Und nicht nur das: Die Kirche gibt auch ihre heiligen Räume auf. So sollen die „bisherigen Einschränkungen in Bezug auf den Ort für Gottesdienste zu Amtshandlungen“ entfallen. Sprich: Taufe, Konfirmation, Trauung, Beerdigung – all das kann nun jederzeit an jedem Ort stattfinden, ob im Park, am See oder wohin es einen sonst verschlägt. Einzige Bedingung: Der Rheinische Präses Thorsten Latzel behauptet, die Kirche komme damit zur urchristlichen Praxis zurück, hätten doch schon in den ersten Gemeinden etwa Taufen direkt am Wasser stattgefunden. Der Präses verschweigt dabei, dass wir heute vor einer grundlegend anderen Situation stehen. Nicht einmal die Hälfte der deutschen Bevölkerung gehört der katholischen oder evangelischen Konfession an und ist erst recht weit davon entfernt, zu irgendeiner urchristlichen Praxis zurückzukehren. Nicht nur das Bekenntnis zum Glauben, sondern auch das Wissen von Religion schwindet zunehmend. In einer Zeit, in der die Kirche den Menschen immer fremder wird, fällt den Protestanten nichts Besseres ein, als die Gesellschaft vollends von kirchlicher Realität zu entkoppeln.
Was ist eigentlich noch protestantisch?
Von einem Reformbeschluss zum nächsten entziehen sie sich damit ihre eigenen Grundlagen. So erlaubt die EKiR auch Eltern, die nicht Mitglieder der evangelischen Kirche sind, ihre Kinder zu taufen. Die sollen zwar irgendwie christlich erzogen werden, aber auf welchem Fundament, steht dahin. Anders, als man denken könnte, steht die Landeskirche im Rheinland mit diesem Selbstzersetzungsprozess nicht allein. Im Gegenteil: Seit einiger Zeit gibt es Bestrebungen in der EKD, die Kirche so weit zu öffnen, dass man sich fragt, was an ihr eigentlich noch protestantisch ist. Schon in den „Zwölf Leitsätzen zur Zukunft einer aufgeschlossenen Kirche“, die aus dem Synodenbeschluss der EKD von 2020 hervorgegangen sind, war absehbar, dass die Kirche keinen Stein mehr auf dem anderen lassen wird. Bereits dort war die Rede davon, „alternative gottesdienstliche Feiern und Formen spiritueller Gemeinschaft an unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten“ anzubieten und nach neuen „Formen der Bindung und Zugehörigkeit jenseits von klassischer Mitgliedschaft“ zu suchen. Auch die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung vom vergangenen Jahr empfiehlt, die Teilhabe am kirchlichen Leben nicht zwingend an die Taufe zu koppeln. Allen früheren Beteuerungen zum Trotz, man wolle sich stärker am Glauben ausrichten, läuft die evangelische Kirche konsequent in die gegenteilige Richtung. Dabei wirkt ihr fast schon areligiöser Reformwille vollkommen hilflos. Ohne Mitgliedschaft, ohne Bekenntnis, ohne christliche Verankerung – Hauptsache, man erreicht irgendwie noch Leute: Soll das die Zukunft der Kirche sein? Wie kann sie da überhaupt noch eine Zukunft haben?
Wohlwollend könnte man ihr Gebaren als Akt der Verzweiflung in Zeiten einbrechender Mitgliederzahlen und leerer Gottesdienste verstehen. Doch dieses Wohlwollen hat die evangelische Kirche längst nicht mehr verdient, wie auch ihr eklatantes Versagen bei der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle zeigt. Bei traditionell Gläubigen dürfte es Befremden auslösen, wenn die Landeskirche im Rheinland sich derart modernisiert, dass sie groteske Events wie „Pop-up-Hochzeiten“ ausrichtet, wo Paare ganz spontan einfach heiraten und kirchlich gesegnet werden können – im Freien, außerhalb des Kirchengebäudes, ohne vorheriges Traugespräch, ohne sichtbare Bindung an den Glauben und die Kirche. Doch man kann es den Leuten kaum vorhalten, wenn sie sich an der Beliebigkeit und Entsakralisierung gottesdienstlicher Praxis nicht stören. Der Kirche ist ja selbst nichts mehr heilig.