Jesus heilt in den Evangelien auch aus der Ferne. Das Gleiche wird von einem jüdischen Chassid, der im 1. Jahrhundert nC gelebt hat, im Talmud erzählt. Kann man beide vergleichen und so den jüdischen Wunderheiler Jesus von Nazaret besser verstehen?
In der ersten Hälfte des 1. Jh. nC gab es in einigen jüdischen Gruppierungen bemerkenswert viele charismatische Persönlichkeiten. Diese Frommen und Gottesfürchtigen – hebräisch Chassidim – lebten nach hohen Idealen, studierten die Schrift, handelten nach ihr und beteten viel. Sie galten als Wundertäter und Wunderheiler. Ein wichtiger Zug dieser charismatischen Persönlichkeiten ist, dass sie materiellen Gütern gegenüber innerlich ganz frei waren. Eine der bekanntesten und populärsten ist Rabbi Chanina ben Dosa. Von ihm wird erzählt, dass ihn nichts von seinen Gebeten abhalten konnte, auch nicht der Biss einer giftigen Echse, den er auf wundersame Weise überlebte, und dass er mit seinen Gebeten viele Wunder und Heilungen wirkte.
Dieser Rabbi ist für das bessere Verständnis der charismatisch-chassidischen Phänomene im Judentum des 1. Jh. eine der wichtigsten Referenzgestalten. Er stammte aus Galiläa und weist einige augenfällige Ähnlichkeiten zu Jesus von Nazaret auf. Laut den rabbinischen Quellen lebte Chanina ben Dosa in Arab, einer galiläischen Stadt im Verwaltungsgebiet von Sepphoris, rund 15 Kilometer nördlich von Nazaret. Dass er im 1. Jh. gelebt hat, lässt sich aus den späteren rabbinischen Quellen schließen, die ihn mit drei historisch genauer bekannten Persönlichkeiten in Verbindung bringen: mit Nehumija, der laut dem Babylonischen Talmud (Jebamot 121b) zu Chanina ben Dosas Zeit Tempelbeamter war, Rabbi Gamaliel und Rabbi Jochanan ben Zakkai. Sollte es sich bei diesem Rabbi Gamaliel um Gamaliel den Älteren handeln, auf den sich der Apostel Paulus – nach Apg 22,3 – als seinen Lehrer beruft (im Allgemeinen wird davon ausgegangen), und nicht um dessen Enkel Rabbi Gamaliel II., so könnte Chanina ben Dosa im Zeitraum von 55 bis etwa 70 nC tätig gewesen sein, also noch vor der römischen Tempelzerstörung in Jerusalem im Jahr 70 nC.
Rabbi Chanina ben Dosa war auch als Heiler bekannt, so sehr, dass zahlreiche markante Persönlichkeiten seiner Zeit bei ihm Hilfe suchten, zum Beispiel die genannten Rabbinen Gamaliel und Jochanan ben Zakkai, deren kranke Kinder Chanina heilte. Chanina war besonders wegen seiner Fähigkeit bekannt, aus der Ferne per Gebet heilen und eine sofortige Heilung bestätigen zu können.
„Weder Prophet noch Prophetenschüler“
Besonders interessant ist die Heilung des Sohnes von Rabbi Gamaliel, denn sie veranschaulicht Chaninas Fähigkeit zum Wunderheilen besonders deutlich. Der Bericht darüber steht im Babylonischen Talmud Berachot 34b:
„Unsere Meister haben gelehrt: Als dem Sohn von Rabbi Gamaliel widerfuhr, krank zu werden, schickte sein Vater zwei Schüler zu Rabbi Chani na ben Dosa, um für ihn dessen Barmherzigkeit zu erflehen. Sobald dieser sie sah, begab er sich in sein Obergemach und begann zu beten. Als er dann herunterkam, sagte er zu ihnen: ‚Geht heim, das Fieber ist von ihm gewichen.‘ Sie fragten ihn: ‚Bist du denn ein Prophet?‘ Er gab ihnen zur Antwort: ‚Ich bin weder Prophet noch Prophetenschüler, aber mir wurde Folgendes geschenkt: Wenn mir das Gebet flüssig über die Lippen kommt, weiß ich, dass der Betreffende geheilt ist, aber wenn das nicht der Fall ist, weiß ich, dass er zum Kranksein verurteilt ist.‘ Sie setzten sich hin, rechneten nach und hielten die genaue Stunde schriftlich fest. Als sie dann wieder bei Rabbi Gamaliel ankamen, sagte dieser zu ihnen: ‚Was für ein Dienst! Ihr habt nichts weggenommen und nichts hinzugefügt. Aber so ist es geschehen: Genau in dieser Stunde hat ihn das Fieber verlassen und er hat uns gebeten, ihm etwas zum Trinken zu geben.‘“
Rabbi Gamaliel hatte also von Jerusalem aus zwei seiner Schüler nach Galiläa geschickt, damit sie Chanina darum bäten, etwas zugunsten seines an einem tödlichen Fieber erkrankten Sohnes zu tun. Chanina hatte dann schon nach einer kurzen Zeit einsamen Gebets diesen Gesandten verkündet, dass der Sohn ihres Meisters geheilt sei. Erst nach ihrer Rückkehr nach Jerusalem hatten sie, noch etwas ungläubig, feststellen können, dass es tatsächlich so war. Ein großer Wert wird in diesem Bericht darauf gelegt, zu betonen, dass Chanina „weder Prophet noch Prophetenschüler“ sei. Der Babylonische Talmud Berachot 34b enthält auch noch einen ganz ähnlichen Bericht über die Heilung des Sohns von Rabban Jochanan ben Zakkai:
“Und etwas anderes ereignete sich noch mit Rabbi Chanina ben Dosa, als er zum Lernen zu Rabban Jochanan ben Zakkai ging: Der Sohn des Letzteren erkrankte schwer. Rabban Jochanan ben Zakkai sagte zu ihm: ‚Chanina, mein Sohn, fleh seinetwegen um Erbarmen, damit er lebe!‘ Rabbi Chanina nahm den Kopf zwischen die Knie, flehte um Erbarmen und er lebte. Rabban Jochanan ben Zakkai sagte: ‚Selbst wenn ich, Rabban Jochanan ben Zakkai, den ganzen Tag lang meinen Kopf zwischen die Knie geklemmt hätte, wäre ich nicht erhört worden.‘ Da sagte seine Frau zu ihm: ‚Ist denn etwa Chanina größer als du?‘ Er erwiderte ihr: ‚Nein, er gleicht einem Sklaven vor dem König, aber ich gleiche einem Prinzen vor dem König.‘“.
Diese Erzählung von der Heilung des Sohns von Rabban Jochanan ben Zakkai enthält keinerlei eschatologische oder messianische Deutung, wie übrigens auch diejenige von der Heilung des Sohns von Rabbi Gamaliel. Beide stellen eine Tatsache deutlich heraus: Selbst dann, wenn diese großen pharisäischen Rabbinen einen Charismatiker dringend um seine Fürbitte angehen, damit er für sie von Gott eine Gunst erlangt, bleiben sie doch bei ihrer festen Überzeugung, dass sie diesem infolge ihrer Torakenntnis überlegen bleiben: Vermag Rabbi Chanina ben Dosa auch eindeutig mehr als sie von Gott zu erlangen, so bleibt er dennoch wie ein „Sklave“, der regelmäßig als Diener das Königsgemach betritt, während Rabban Jochanan ben Zakkai sich als einem „Prinzen“ gleich sieht, der bei Gott seine Besuche macht. Wenn Jesus den Diener eines Hauptmanns (Lk 7,1-10/Mt 8,5-13) oder den Sohn eines königlichen Beamten (Joh 4,46-53) aus der Ferne heilt, entspricht die Erzählung der gleichen Gattung – anscheinend war dies ein bekanntes Muster charismatischen Wirkens.
Ein besonders wirksames Gebet
Ob seine Heilungshandlung Wirkung zeigt, spürt Chanina daran, dass ihm sein Gebet leicht fällt. So heißt es im Abschnitt Mischna Berachot V,5, den der Babylonische Talmud in 34b übernahm:
„Man erzählt, dass Rabbi Chanina ben Dosa, wenn er für Kranke betete, immer bekannt gab: ‚Der wird leben – der wird sterben.‘ Man fragte ihn: Woher weißt du das?‘ – ‚Wenn mein Gebet leicht fließt, weiß ich, dass er [der Kranke] gerettet ist, und wenn nicht, weiß ich, dass er verdammt ist.‘“
Tatsächlich betonen alle diese in den Berachot enthaltenen Berichte über Rabbi Chanina ben Dosa in erster Linie die Wirksamkeit seines Gebets und weniger seine Wunderkraft. Rabbi Chanina ben Dosa wurde wegen seiner Vollmacht verehrt, Menschen zu retten, die sich in physischer Gefahr befanden, insbesondere wenn diese durch böse Geister verursacht war. Von seiner Macht über Dämonen berichtet ein Abschnitt des Babylonischen Talmud Pesahim 112b, worin es heißt:
„Sie [Agrat, die Tochter der Mahlat, der Königin der Dämonen] traf eines Tages Rabbi Chanina ben Dosa und sagte zu ihm: ‚Wenn man nicht im Himmel ausgerufen hätte: Hütet euch, Chanina und seine Tora anzurühren, so hätte ich dir Böses zugefügt.‘ Er erwiderte ihr: ,Da ich im Himmel so hoch geschätzt werde, befehle ich dir, niemals mehr an einen bewohnten Ort auf Erden zu kommen.‘ Sie bat ihn: ‚Lass mir wenigstens noch einen Rand!‘ Da ließ er ihr die Sabbatabende und die Abende des vierten Wochentags.“
Und noch eine weitere wichtige Einzelheit: Zuweilen heißt es in den Textabschnitten über Chanina, dass die himmlische Stimme ihn mit „mein Sohn“ anspricht. Grundsätzlich irritierten Chanina ben Dosa und die anderen Wunderheiler die verantwortlichen Pharisäer ihrer Zeit und auch zahlreiche Rabbinen späterer Epochen. Praktisch jedoch tolerierten die Pharisäer und Rabbinen das charismatische Wirken – ausgenommen, es tangierte die Bestimmungen der Halacha, der überlieferten Rechtsprechung, wo jeder übernatürliche Beweis als unzulässig galt (vgl. im Babylonischen Talmud Baba Metzia 59a-b). Abgesehen davon blieben den Pharisäern auch die charismatischen Äußerungen der Jesusbewegung und insbesondere deren Exorzismen, die im 1. und 2. Jh. dort noch einen großen Platz einnahmen, äußerst verdächtig.
Zweifellos vor dem Hintergrund dieser Ablehnung ist die Stelle in der Mischna Sotah IX,15 zu verstehen, in der es heißt:
„Als Rabbi Chanina ben Dosa starb, gab es keine frommen Menschen mehr, die fähig waren, solches zu vollbringen.“
Laut dieser Tradition war also der populäre Rabbi Chanina ben Dosa der letzte Chassid, der „solches“, also durch seine Frömmigkeit Wunder vollbringen, konnte. Das ermöglichte, alles spätere charismatische Wirken in Misskredit zu bringen, darunter natürlich auch das der Jünger Jesu – denn die Himmel hatten sich dafür ja längst verschlossen.
[Dr. Simon Claude Mimouni ist Historiker mit Schwerpunkt antikes Judentum und Christentum an der École pratique des Hautes Études in Paris]




