Der Gott der Befreiung und die Sklaverei
29.05.2024 Sklaverei in den Texten des Alten Testaments - Teil 1
Ob in der Stadt oder auf dem Land – Sklaverei war in der antiken Welt und im Römischen Reich selbstverständlich und überall präsent. Sklaven und Sklavinnen schufteten in Bergwerken oder in der Landwirtschaft, betrieben Werkstätten, arbeiteten in Schenken und Bordellen. Sie waren aber auch persönliche Vertraute ihrer Besitzer, erzogen deren Kinder oder führten die Geschäfte. Kein Arbeitsfeld war ihnen verschlossen. Nicht wenige erlebten Misshandlungen, sexuelle Ausbeutung oder starben an den Bedingungen, andere gehörten fast zur Familie. Und wenn ihre Herren Machtpositionen besaßen, konnten Sklaven sogar selbst politischen Einfluss gewinnen. Doch war ihnen allen eines gemein: Sie hatten keine eigenen Rechte, waren Eigentum anderer aufgrund ihrer Geburt als Kinder von Sklavinnen, durch Kriegsgefangenschaft oder durch Überschuldung. Grundsätzlich infrage gestellt wurde Sklaverei nur von wenigen. Und auch im christlichen Kontext war Sklaverei selbstverständliche Realität - in den neutestamentlichen Texten ebenso wie im realen Gemeindeleben.
Von Dr. Rainer Kessler, Professor im Ruhestand für Altes Testament an der Philipps-Universität Marburg
Sklaverei war im antiken Israel und Juda eine harte Realität, obwohl das Grundbekenntnis des Volkes Israel die Erfahrung wachhält, dass sein Gott es aus dem Sklavenhaus Ägypten befreit hat. Diese Spannung prägt die Texte des Alten Testaments.
Sklaverei ist im alten Israel wie in der gesamten alten Welt eine nicht grundsätzlich infrage stehende gesellschaftliche Institution. Dabei ist das Phänomen der Sklaverei vielfältig. Für das alte Israel und Juda ist die wichtigste Form die Schuldsklaverei. Sie tritt ein, wenn ein Schuldner sein Darlehen nicht mehr zurückbezahlen kann. Dabei ist es möglich, dass der Schuldner selbst, vorrangig wohl aber zunächst Familienmitglieder, in Schuldsklaverei geraten. Diese ist in der Regel zeitlich befristet. Daneben steht die Dauersklaverei. In diese können sich Schuldsklaven freiwillig begeben, wenn sie die Sicherheit eines Lebens bei einer guten Herrschaft der prekären Existenz in dauernder Überschuldung vorziehen. In der Regel aber tritt Dauersklaverei infolge von Kriegsgefangenschaft oder Verschleppung ein. Die Kinder von Dauersklaven werden selbst als Sklaven geboren. Die Existenz von Sklavinnen und Sklaven war so selbstverständlich, wie heute die Existenz von Lohnarbeit, der Zwang, Steuern zahlen zu müssen, und in vielen Ländern die allgemeine Wehrpflicht.
Allerdings steht das Bild des Alten Testaments von der Sklaverei in einer grundsätzlichen Spannung. Zum einen ist Sklaverei selbstverständlich. In Spannung dazu steht aber die Ursprungserzählung von der Befreiung des Volkes Israel aus der Sklaverei in Ägypten durch den Gott JHWH (Jachweh, in der jüdischen Tradition Adonai [oder haShem, “der Name”]. Sie spielt für das Selbstverständnis Israels eine grundlegende Rolle. In den zehn Geboten, dem Dekalog, wird die so entstehende Spannung greifbar. Am Anfang stellt sich der Gott vor, der Israel „aus dem Land Ägypten, dem Sklavenhaus, herausgeführt“ hat.
Dann aber folgen Gebote wie das Sabbatgebot und das Verbot zu begehren, die selbstverständlich die Existenz von Sklave und Sklavin voraussetzen, sowohl beim angeredeten Du als auch bei dessen Nächstem (Ex 20,10.17; Dtn 5,14.21). Diese Grundspannung findet ihren Niederschlag in Texten, die einerseits ein herrschaftlich geprägtes Bild der Sklaverei bieten, andrerseits einen kritischen Blick auf diese Institution werfen.
Doch bevor wir uns diesen Texten zuwenden, müssen wir klären, was wir überhaupt meinen, wenn wir von Sklaverei sprechen.
Was ist ein Sklave, eine Sklavin?
Die modernen europäischen Sprachen der germanischen und romanischen Sprachfamilien kennen allesamt ein Wort „Sklave, Sklavin“ (engl. slave; schwed. slav/slavinna; niederl. slaaf/slavin; ital. schiavo/schiava; franz. esclave; span. esclavo/esclava usw.), das in den antiken Sprachen keine Entsprechung hat. Das Wort ist von seiner Herkunft her identisch mit der ethnischen Größe Slawe, weil im mittelalterlichen Osten überwiegend Slawen die Opfer von Sklaverei waren. Sklaverei wird dabei totaler Abhängigkeit einer Arbeitskraft von einem Herrn (Herrin) verstanden, dergestalt, dass die Person des Sklaven oder der Sklavin diesem Herrn gehört. Das umfasst die Arbeitskraft, aber etwa auch die Sexualität und bei Frauen die Gebärfähigkeit der Sklavin. Eingeschlossen ist das Recht der körperlichen Züchtigung. Nicht jede Arbeit für einen Herrn oder eine Herrin ist aber Sklaverei. Ein Diener oder eine Amme werden für ihre Arbeit bezahlt; es handelt sich also um eine Form von Lohnarbeit. Nicht einmal jede zwangsweise geforderte Arbeit ist Sklaverei. Das gilt in feudalen Gesellschaften für die Fronarbeit, die der jeweiligen Herrschaft geschuldet und zeitlich befristet ist, und in modernen Gesellschaften für eine allgemeine Dienstpflicht (als militärischer oder ziviler Dienst). Im Hebräischen ist das sprachliche Äquivalent für das Phänomen der Sklaverei die Wurzel ‘ābad, [עבד sprich: ebed] besonders das Nomen ‘ævæd [עֶבֶד sprich: eved] für männliche Sklaven. Die Sklavin wird parallel zu ‘ævæd als ᾿āmāh [אָמָה] bezeichnet. Ein klassisches Beispiel ist die Einbeziehung „deines Sklaven (‘ævæd) und deiner Sklavin (᾿āmāh*)“ in das Gebot der Arbeitsruhe am Sabbat im Dekalog.
Knecht oder Sklave, Magd oder Sklavin?
Die sprachliche Gleichsetzung von Sklave und Sklavin mit ‘ævæd und ‘āmāh führt zu zwei Problemen. Das erste ergibt sich aus Luthers Übersetzung und deren nachhaltiger Wirkung. Luther hat nämlich die hebräischen Vokabeln ‘ævæd und ᾿āmāh mit „Knecht“ und „Magd“ wiedergegeben und damit die auf Sklaverei beruhenden Verhältnisse der Antike in die feudal-ständischen Strukturen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit übertragen. Genauso verfährt die englische Übersetzung der King James Bible, die manservant und maidservant statt male slave und female slave schreibt. […] Konsequenter ist die Einheitsübersetzung, die an fast allen Stellen mit Sklave und Sklavin übersetzt.
Das zweite Problem bei der Übersetzung von ‘ævæd und ᾿āmāh mit Sklave / Sklavin ist innerhebräischer Natur. Denn als ‘ævæd oder ᾿āmāh werden keineswegs nur Sklaven und Sklavinnen im modernen Sinn des Wortes bezeichnet, sondern generell Personen, die von einem höher Gestellten abhängig sind. Das sind etwa hohe Beamte, die „‘ævæd“ oder „᾿āmāh des Königs“ heißen; sie sind sowohl in biblischen Texten (2 Kön 22,12) als auch inschriftlich belegt. Ein Beispiel ist das hier abgebildete Siegel des höchsten Ministers des Königs Jerobeams II. von Israel (787–747 v.Chr.) mit der Aufschrift: „Dem Schema, ævæd Jerobeams, gehörend“.
Ein solcher „Sklave des Königs“ steht zwar in hierarchischer Abhängigkeit von seinem Herrn, übt aber zugleich im Namen des Königs Herrschaft aus, wie ein „Minister“ im wörtlichen Sinn ein Diener, in der Realität aber ein Politiker im oberen Rang der Hierarchie ist. ‘ævæd ist ferner ein König, wenn er in einem Vasallitätsverhältnis zu einem Großkönig steht (2 Kön 16,7; 2 Kön 17,3; 2 Kön 18,7). Auch bezeichnet man sich selbst als ‘ævæd oder ᾿āmāh, wenn man einem höher Gestellten gegenübertritt (Gen 18,3; 19,2; Gen 32,11; Sam 1,11; 25,24–25). Auf diesem Hintergrund kann schließlich das Verhältnis zu Gott wie das eines Sklaven oder einer Sklavin vorgestellt werden (Mose, David, Hiob oder der „Gottesknecht“ Deuterojesajas). Im Bewusstsein, dass die hebräischen Vokabeln nicht mit den deutschen Begriffen aus dem Wortfeld Sklaverei identisch sind, soll im Folgenden dennoch der Versuch gemacht werden, die Sklaverei im modernen Sinn des Wortes in der Hebräischen Bibel in den Blick zu nehmen. Dabei ist von der Grundspannung zwischen der Befreiung aus der Sklaverei im Motiv des Auszugs aus Ägypten und der selbstverständlichen Existenz von Sklaven und Sklavinnen in Israel und Juda auszugehen. Sie führt einerseits zu Texten, die einem herrschaftlich geprägten Bild der Sklaverei entsprechen, während andere Texte dieser Einrichtung kritisch gegenüberstehen.
wird in Kürze fortgesetzt
[Ergänzungen der Redaktion]:
* Für Sklavinnen werden in der Tora zwei unterschiedliche Wörter benutzt: shifcha [שִׁפְחָ֥ה], vereinfacht: nichtjüdische Sklavinnen und amah [אָמָ֥ה], vereinfacht: jüdische Sklavinnen. Beispiel: Hagar wird bis zur Geburt Ismaels durchgehend als shifcha (Gen 16) bezeichnet, danach durchgehend als amah (Gen 21).