Die Bedeutung des Wortes τὸ εὐαγγέλιον (to euangelion)
Als Evangelium bezeichnet man außer der christlichen Glaubensbotschaft auch eine frühchristliche Literaturgattung, die sich mit dem Leben, Tod und Auferstehung Jesu und dessen Bedeutung für die Christen auseinandersetzt. Mit den „Evangelien“ in diesem Sinne sind meistens Erzählungen, der vier Evangelien nach Matthäus, Markus, Lukas und Johannes, im Neuen Testament der Bibel gemeint. Die Verfasser der vier Evangelien werden auch als Evangelisten bezeichnet.
Darüber hinaus sind noch eine ganze Reihe weiterer Evangelien überliefert, die nicht zum biblischen Kanon gehören und zu den neutestamentlichen Apokryphen** gerechnet werden. Zu den bekanntesten zählen dabei das Von ihnen sind u. a. überliefert das Thomasevangelium, das Petrusevangelium, das Judasevangelium, das Evangelium der Wahrheit und das Philippusevangelium. Ab Ende des 2. Jhs. wurden allerdings nur die vier kanonischen Evangelien anerkannt. In der Spätantike wurden im „39. Osterfestbrief“ durch Athanasius* im Jahre 367 n Chr., mehr als zwanzig in griechischer Sprache verfasste Schriften, darunter u. a. auch die drei synoptischen Evangelien (s.u.) als neutestamentlicher Bibelkanon anerkannt. Obwohl die ersten drei Evangelien viele Begebenheiten ähnlich berichten, und der Inhalt des kürzeren Markus-Evangeliums größtenteils in den längeren nach Matthäus und Lukas enthalten ist, wurden alle vier Evangelien für den kirchlichen Gebrauch beibehalten. Es wurde weder das Markus-Evangelium weggelassen noch trat eine “Evangelienharmonie” (d. h. eine aus den vier Evangelien zusammengestellte durchgehende Erzählung) an die Stelle der Evangelien. Allerdings wurde die von Tatian [christlicher Apologet ostsyrischer Herkunft des 2. Jahrhunderts, † ca. 170 n. Chr.] erstellte Evangelienharmonie [Diatesseron, τὸ διὰ τεσσάρων to dia tesseron, „durch vier“, „aus vier“] in der syrischen Kirche bis ins 4. Jh. benutzt, aber dann von den ursprünglichen Evangelien verdrängt. Die entstehende Großkirche entschied sich dafür, diese vier in den christlichen Gemeinden gebrauchten Evangelien gesondert in den neutestamentlichen Kanon aufzunehmen.
Das griechische Wort τὸ ἐυαγγέλιον (to euangelion) bedeutet ursprünglich „Lohn für die Überbringung guter Botschaft“ bzw. die „gute Botschaft“ selbst. Dieser Sprachgebrauch findet sich auch im Neuen Testament, denn „Evangelium“ bedeutet dort „die (mündliche) Heilsbotschaft“. Im nachexilischen Judentum war mit Evangelium vor allem die vom Propheten Jesaja angesagte Heilsbotschaft gemeint (40,9–12). Im Imperium Romanum bezeichnete dieser Begriff solche Nachrichten aus dem Kaiserhaus, die als gute Nachrichten aufgefasst wurden. Die älteste Belegstelle findet sich in der steinernen Kalenderinschrift von Priene [datiert auf das Jahr 9 v. Chr.], in der es über den Geburtstag des vergöttlichten Kaisers Augustus (23. September 63 v. Chr.) heißt: ἦρξεν δὲ τᾦ κόσμῳ τῶν δι’ αὐτὸν εὐαγγελίων ἡ γενέϑλιος τοῦ ϑεοῦ … „Der Geburtstag des Gottes hat für die Welt die an ihn sich knüpfenden Freudenbotschaften [Evangelien] heraufgeführt“.
In den Paulusbriefen kommt das Wort εὐαγγέλιον 60-mal vor und bezeichnet die Gute Nachricht von Jesus, die Paulus verkündigt. Paulus verwendet einerseits die Wendung εὐαγγὲλιον τοῦ θεοῦ (euangelion toū theoū “Evangelium Gottes”) wie im 1.Thess 2,2.8.9; 2.Kor 11,7; Röm 1,1; 15,16, die den Ursprung und die Autorität des Evangeliums betont. Andererseits aber auch die Formel εὐαγγὲλιον τοῦ Χριστοῦ (euangelion toū Christoū “Evangelium von Christus”) wie im 1.Thess 3,2; 1.Kor 9,12; 2.Kor 2,12), die eher den Inhalt der Heilsbotschaft in den Vordergrund stellt.
Bei Markus 1,1 erhält der Begriff eine pointiertere Bedeutung in der Anwendung auf Jesus von Nazareth. Er bezeichnet damit die Frohbotschaft vom Heilsgeschehen in Jesus Christus. Indem er den traditionellen Begriff so füllt, gelingt es dem Verfasser, die Reich-Gottes-Verkündigung Jesu und die Verkündigung von Jesus dem Christus miteinander zu verbinden (Mk 8,35; 10,29). Inhalt des „Evangeliums“ sind nun auch die im Markusevangelium berichteten Jesusgeschichten (Mk 14,9). Noch die im 2. Jh. entstandenen Evangelienüberschriften zeigen, dass die ursprüngliche Wortbedeutung bewusst geblieben war. Ihre korrekte Übersetzung lautet nämlich: „Evangelium nach Matthäus“ usw.
„Evangelium“ als literaturtheoretischer Begriff
Als literaturtheoretischer Begriff bezeichnet „Evangelium“ eine literarische Gattung, die biographische Elemente (Beginn mit Taufe/Geburt Jesu; Ende mit Kreuzigung/Auferstehung; Stationen der Wirksamkeit Jesu) mit der Überlieferung und Deutung der Botschaft Jesu verbindet. In ihr werden weitgehend die Stilmittel der antiken Biographie genutzt, aber auch Charakteristika frühjüdischer Gattungen (weisheitliche Sammlungen, apokalyptische Literatur, Märtyrerberichte) aufgegriffen. Die Evangelisten sind – Lukas bildet hier mit seinen weltgeschichtlichen Synchronismen eine gewisse Ausnahme – nicht an einer chronologisch exakten Biographie Jesu interessiert. Sie wollen Verkündigung sein, bieten also ein Ineinander von erzählendem Text und verkündigender Anrede an die Gemeinde. Ihnen geht es um die Bedeutung Jesu Christi und seiner Botschaft für die Gemeinde(n), für die sie schreiben.
Die Entstehungszeit der neutestamentlichen Evangelien liegt zwischen 30 oder 33 n. Chr. (dem Jahr der Kreuzigung Jesu) und ungefähr 120 n. Chr. In der theologischen Forschung vertritt kaum jemand die „Frühdatierung“ eines Evangeliums in die 30er Jahre, es gibt aber seit der Antike die These eines Urevangeliums. Die Diskussionen bewegen sich im Spannungsfeld zwischen einer „mittleren Datierung“ der Evangelien um 60 n. Chr. und einer Spätdatierung“ um 85 n. Chr. Trotz des nur kurzen öffentlichen Wirkens Jesu gibt es also von ihm zeitlich nähere biographische Darstellungen als von den meisten antiken Persönlichkeiten, z. B. wurde die früheste noch erhaltene Biographie über Augustus ein Jahrhundert nach dessen Tod von Sueton geschrieben, über Mohammed zwei Jahrhunderte nach dessen Tod von Ibn Hischam. Um die Entstehungszeit der Evangelien zu bestimmen, werden folgende Kriterien zugrunde gelegt: Stilistische Eigenheiten, wechselseitige Bezüge der Texte, theologische Unterschiede und Bezugnahmen auf historische Fakten. In der folgenden Tabelle finden sich einige Datierungsversuche:
Die synoptischen Evangelien
Der weitgehend parallele Aufbau der Evangelien nach Matthäus, Markus und Lukas ermöglicht es, sie so aufzuschreiben, dass die sich entsprechenden Abschnitte aus jedem Werk nebeneinander stehen. Eine solche Zusammenstellung heißt „Synopse“ [σύνοοψις synopsis, “ein zusammen Sehen, Übersicht”]. Deshalb bezeichnet man diese drei Evangelien seit dem Ende des 18. Jh. als „synoptische Evangelien“. Das Johannesevangelium bietet dagegen sowohl einen abweichenden Aufriss als auch weitgehend anderes Material. Nur in der Passionsgeschichte (und in wenigen weiteren Passagen) greifen alle 4 Evangelien offensichtlich auf gemeinsame Traditionen zurück.
Ein zentrales Thema bei der bibelwissenschaftlichen und exegetischen Erforschung der drei synoptischen Evangelien ist das sogenannte Synoptische Proble: wie können die Übereinstimmungen und Unterschiede der ersten drei Evangelien in Wortlaut, Reihenfolge und Stoffauswahl erklärt werden? Hierzu gibt es seit dem Ende des 18. Jahrhunderts verschiedene Hypothesen:
Die Urevangeliumshypothese geht davon aus, dass zwei der drei Synoptiker ein heute verschollenes aramäisches oder hebräisches „Nazarenerevangelium“ verwendet haben.
Die Fragmenten- oder Diegesenhypothese postuliert eine große Anzahl unabhängiger Einzelaufzeichnungen und Sammlungen von Texten, von denen manche jeweils mehrere, manche aber auch nur je ein Evangelist zur Vorlage hatte.
Die Traditionshypothese meint, dass es einen Stand der „Evangelisten“ gegeben habe, die das Evangelium mit seinen Einzelgeschichten in einem festen, auswendig gelernten Zyklus als Wanderprediger weitergaben. Diesen vorgegebenen Stoff verarbeiteten die Synoptiker je unabhängig voneinander.
Heute sind verschiedene Benutzungshypothesen vorherrschend, die eine direkte Abhängigkeit zwischen den Synoptikern postulieren. Die am weitesten verbreitete Hypothese ist die Zweiquellentheorie. Demnach sei das Markusevangelium zuerst geschrieben worden. Außerdem habe eine zweite Quelle existiert, die vor allem Sprüche Jesu enthalten habe und daher als Logienquelle Q bezeichnet wird. Matthäus und Lukas hätten Markus und Q sowie weitere, je eigene Überlieferungen, so genanntes Sondergut, als Quellen verwendet. Sowohl die Logienquelle Q als auch die Quellen des Sondergutes liegen nicht als eigenständige Texte vor.
* Athanasius der Große (Athanasius von Alexandria, Ἀϑανάσιος Athanásios, “der Unsterbliche”), geboren um 300 in Alexandria, † 2. Mai 373 ebenda) war Patriarch von Alexandria und zählt zu den Kirchenvätern. Bekannt wurde er als langjähriger und vehementer Gegner des “Arianismus”.
** Apokryphen (außerkanonische Schriften; ἀπόκρυφος apokryphos, “verborgen, dunkel”) sind religiöse Schriften jüdischer bzw. christlicher Herkunft aus der Zeit zwischen etwa 200 v. Chr. bis ca. 400 nach Christus, die nicht in einen biblischen Kanon aufgenommen wurden oder über deren Zugehörigkeit Uneinigkeit besteht. Die Gründe hierfür sind unterschiedlich und stellen ein eigenes Forschungsgebiet dar: inhaltliche oder religionspolitischen Gründe, weil sie erst nach Abschluss des Kanons entstanden sind oder aber zur Zeit ihrer Entstehung noch nicht allgemein bekannt waren. Zuweilen werden auch noch spätere christliche Schriften, deren Entstehungszeit bis ins 8. oder 9. Jahrhundert reicht, zu den neutestamentlichen Apokryphen gerechnet.