Die grösste Dummheit der Kirche ist, zu politisieren, statt sich mit dem Thema Gott-Mensch zu befassen. Hinzu kommt die Verderbtheit ihres Personals, das besser glaubwürdig glauben sollte.
Alle reden von der Kirchenkrise. Das ist nicht falsch, aber kratzt nur die Oberfläche. Dabei wird meistens das Fundamentalproblem ignoriert. Die Kirchen stecken, ebenso wie jüdische Religionsinstitutionen, nicht allein wegen der Defizite und Vergehen als Institution, wegen dieser oder jener Personen in einer Krise. Defizite vergleichbarer Art gab es in der Geschichte der Kirchen immer wieder. Geradezu zyklisch war der Verlauf von Krisen und Krisenüberwindung. Zuerst die Formierung der Institution, dann Etablierung, es folgte vor allem sittlicher Ver- und Zerfall, schließlich Krise. Dann jedoch, gerade wegen der Krise und durch die Krise, Erneuerung durch personalisierte und institutionalisierte ethische Läuterung, sprich: Reform oder gar Reformation. Doch dann, wie gehabt, immer wieder auf und ab. Eine Auflösungsgefahr der Institution Kirche bestand trotzdem nicht. Selbst die erbittertsten Rivalen glaubten an den ursprünglich in und von der Bibel angedeuteten alleswissenden, sehenden, leitenden, leidenden, belohnenden, quasi buchhalterischen und – besonders wirksam – strafenden Gott. Eine Art himmlischen Vorläufer von George Orwells irdischem Big Brother in «1984» in der Art: «Der liebe Gott sieht alles.»
In den orientalischen Despotien und anderen frühen Hochkulturen war der weltliche Herrscher zugleich Herr der Welt beziehungsweise des Kosmos. Wer die Macht dieses Gottes bezweifelte, sie begrenzen oder gar beenden wollte, musste mit der Strafe der Staatsmacht rechnen. Es war daher opportun, die Zweifel an der Göttlichkeit der Obrigkeit nicht kundzutun. Zur griechischen Polis gehörte die Götterwelt als Staatsreligion. Ebenso in der Römischen Republik. Die römischen Kaiser vereinigten in ihrer Person die oberste weltliche und geistliche Macht. Vermeintliche und tatsächliche religiöse «Frevler» konnten jederzeit von der Staatsgewalt verfolgt und bestraft werden. Das bedeutete: Eine Krise der Staatsmacht und ihrer höchsten Person war unweigerlich zugleich eine Krise der religiösen Institution. Als Roms Staatsmacht sich seit Konstantin dem Grossen im 4. Jahrhundert vom antiken Polytheismus ab- und dem monotheistischen Christentum zuwandte, ging die alte Götterwelt unter.
Marionetten der Staatsmacht
Im Hochmittelalter, während des Machtkampfes zwischen Papst und Kirche einerseits sowie Kaisern, Königen, weltlichen und geistlichen Fürsten andererseits, wurde nicht um Sein oder Nichtsein Gottes gerungen, sondern um irdische Macht. Gott als kosmische Allmacht war beidseits unbestritten. Erst recht bei der Allgemeinheit. Sie war Untertan, nicht Bürger, der weltlichen wie der geistlichen Obrigkeit. Die Salbung der weltlichen Herrscher durch Geistliche als für Kirche und Krone unentbehrliches Ritual dokumentiert den Gotteskonsens beider Rivalen. Deshalb wurden Gotteszweifler von beiden Seiten als Ketzer betrachtet, verfolgt und hart bestraft.
Doch fröhlich und genüsslich sündigte die Geistlichkeit seit je. Zumindest in Teilen. Selbst im Alten Testament ist die Geistlichkeit teilbefleckt. Epochenübergreifend sind in der zweitausendjährigen Kirchengeschichte Frevel, Missbräuche, Sünden und andere religiös-kirchliche Regelbrüche haufenweise belegt: nichts Neues unter der Sonne. Zweierlei folgt aus dem mehrtausendjährigen Sündenregister der jeweiligen Geistlichkeiten. Erstens: Wer «vor Gott» sündigt, glaubt nicht an Gott. Weder im Poly- noch im Monotheismus. Nur scheinbar widersinnig formuliert: Der gelebte Gotteszweifel war bis zur Trennung von Staat und Religion das Privileg der Götter- und dann Gottesdienerschaft. Selbst wenn das gotteslästerliche Denken und Handeln der Geistlichkeit aus den Mauern der Kirche und anderen religiösen Einrichtungen nach außen drang, konnte es verdeckt, politisch gedeckt und wie nicht geschehen behandelt werden.
Seit etwa 1800, also seit der Säkularisierung und der durch sie ausgelösten sowie erreichten Trennung von Staat und Religion, ist die Sünde des Geistlichen keine Privatsache mehr, sondern ein Problem der Institution und ihrer Position in der Gesellschaft. Das Decken und Verdecken geistlicher Sünden ist seit der Trennung von Staat und Kirche kaum noch möglich. Irgendwann singt immer irgendwer. Erst recht im Zeitalter der traditionellen, neuen und sozialen Plattformen.
Zweitens: Die Geistlichkeit konnte individuell, teils kollektiv, im religiösen Sinne sündigen, ohne dass es ihre Institution nachhaltig schwächte oder zerbrach. In einer Gesellschaft ohne Trennung von Staat und Religion lässt es sich schwer, zumindest nicht ungefährlich, über Gott lästern, an ihm zweifeln oder von ihm abfallen. Nicht einmal die sichtbaren oder unsichtbaren Frevel seiner Vollzugsbeamten, sprich: Geistlichen, konnten, obwohl erkannt, ohne Gefahr für Leib, Leben und berufliches Fortkommen benannt werden. Ohne Trennung von Religion und Politik bestimmt die Staatsmacht, wer Frevler ist – auch und gerade wenn diejenigen, die über Frevel und Frevler entscheiden, selbst freveln.
Seit der Trennung von Staat und Religion werden nicht nur Zweifel an Gottes institutionalisierten Boten, sondern an Gott selbst ausgesprochen. Schliesslich erklärte Nietzsche 1882 in seiner «Fröhlichen Wissenschaft» Gott für tot. Die Vertreter der areligiösen Moderne sind seither ständig mehr geworden.
Tot oder gar ewig lebend – zu diesem und jenem gab und gibt es Zweifler. Beiden droht seit der Trennung von Staat und Religion gottlob keine Gefahr mehr. Die institutionalisierte christliche Religion ist auf sich allein gestellt. Kein Staat weit und breit, der sie aus ihrem selbstverschuldeten Dilemma herausführt. Dieses besteht auch für die religiösen Einrichtungen der jüdischen Diaspora, nicht jedoch für die israelisch-jüdischen. Durch ihr demografisches Gewicht erlangen die religiös jüdischen Israeli immer mehr politischen Einfluss. «Seid fruchtbar und mehret euch!» zahlt sich für sie nicht nur theologisch-ideologisch aus, sondern auch koalitions- und damit machtpolitisch. Gotteszweifler werden in Israel freilich nicht verfolgt, leben aber zunehmend in der vollkommen säkularisierten «Blase» der «Republik Tel Aviv».
Rasante Säkularisierung
Dennoch: Zumindest als Rückversicherung fürs Jenseits klebte der Grossteil der Allgemeinheit bis in die späten 1960er Jahre am institutionell-kirchlichen oder Diaspora-rabbinischen Gottesglauben. Jedenfalls ging der brave Bürger artig Sonntag für Sonntag und zu den Feiertagen in die Kirche. Um 1968, mit der Ära der blumenkindlichen Hippies und ihrer grün geprägten Epigonen sowie der allmählichen Kulturhegemonie der Neuen Linken, begann die Lawine der Gottesfernen zu rollen. Dessen ungeachtet dachte, machte und lebte der grosse Teil der im religiösen Sinne sündigen Geistlichen weiter wie zuvor.
Im Laufe jener nach 1945 allmählichen und seit den späten 1960ern rasanten Säkularisierung «starb Gott» nun nicht mehr allein für avantgardistische Intellektuelle oder sündige Geistliche. Er starb allmählich für den Grossteil der Bürgergemeinschaft. Entscheidend: Herr und Frau Jedermann sahen: Den Sündigen passiert nichts, «wie im Himmel, so auf Erden». Und: Wie kann und soll die einzelne Person die religiösen Regeln ihrer Institution einhalten, wenn deren Personal die eigenen Regeln selbst nicht einhält, Wasser predigt und Wein trinkt?
Jenseits dieser oder jener «sündigen» Person begeht die kirchliche Institution die grösste Dummheit. Sie schafft sich selbst ab, denn seit Jahrzehnten beschäftigt sie sich eher selten mit dem Thema Gott-Mensch. Sie befasst sich stattdessen mehr mit Sexualtheologie, Zölibat, Genderfragen, Sozialethik sowie – besonders die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) – mit Politik. Mehr als andere betätigt sich die EKD als NGO, als austauschbarer Verband in der Verbandsdemokratie. Doch in der Politik ist die Politik der Kirche überlegen, und als eine von vielen NGO verzichtet die Kirche auf ihr «Alleinstellungsmerkmal Gottesbotschaft». Die Kirche macht sich selbst überflüssig.
Dennoch gibt es selbst in unserer säkularisierten Moderne Gottesgläubige oder Menschen, die nicht an den biblisch, kirchlich oder rabbinisch beschriebenen Gott glauben. Sie glauben eher an eine den Kosmos durchdringende oder beherrschende, zumindest spirituelle Urkraft. Ihr Gott ist nicht tot, er lebt, und er ist anders. Er ist jedenfalls nicht mehr der Gott der Kirche und der Synagoge. Ob gut oder schlecht, die islamische Welt ist von dieser Entwicklung Lichtjahre entfernt. Der Islam-Turm wankt noch nicht.
Zulauf haben Kirche und Diasporajudentum nur dort, wo ihr Personal glaubhaft glaubt und auch im religiösen Sinne sauber ist. Doch, das gab und gibt es. Einstweilen sieht es jedoch so aus, dass Gottes Diener sich weiter an ihm versündigen und sich langfristig selbst überflüssig machen.
[Michael Wolffsohn ist Historiker, Publizist und Buchautor. Gerade ist sein Buch «Nie wieder? Schon wieder!» im Herder-Verlag, Freiburg im Breisgau, erschienen.]