Ein beredtes Beispiel, wie biblische Sachverhalte durch die Interpretation geschichtlicher Fakten interpretiert werden können, liefert eine Stele, die auf dem Tel Dan gefunden wurde. Der sukzessive Fund der drei Fragmente der Inschrift zeigt beispielhaft, wie die Exegeten den archäologischen Befund angesichts ihres jeweiligen (vom konkreten Fund unabhängigen) Vorverständnisses positionieren.
Das erste Fragment der Stele (Fragment A) wurde im Jahr 1993 auf dem Tel Dan, der biblischen Stadt Dan, aufgefunden. Aus diesem war zu schließen, dass ein aramäischer Herrscher sein von Israeliten besetztes Land mithilfe des Gottes Hadad militärisch befreit habe. Die optimistisch agierenden Avraham Biran (Ausgräber von Tel Dan) und Joseph Naveh (Epigrafiker) interpretierten in den Zeilen 8 und 9 die Passage bytdwd unmittelbar nach der Erwähnung des Königs von Israel als „Haus Davids“. (bet bedeutet auf Hebräisch “Haus”, die Vokale werden nicht geschrieben). Damit läge hier die früheste Erwähnung von König David, oder genauer: des Hauses David, außerhalb der Bibel vor. Dies war bemerkenswert, denn dann wäre das Königtum Davids bereits in der Mitte des 9. Jh. vC weit über sein ehemaliges Gebiet hinaus bekannt gewesen – nur reichlich einhundert Jahre nach Davids Regierung.
Die geschichtliche Deutung konnte auf drei verschiedene Situationen bezogen werden:
• 1.Kön 15,18-20: 885 vC; der König von Damaskus Benhadad kämpfte gegen Bascha von Israel; die Judäer waren allerdings nach alttestamentlichen Aussagen mit Damaskus verbündet!
• 1.Kön 20,22: 870–851 vC; Aramäerkriege König Ahabs, die allerdings eher eine deuteronomistische Erfindung (Bearbeitung der Geschichtsdarstellung Israels im 6./5. Jh. vC) als historische Wahrheit sind, zumal Ahab im Kampf gegen Salmanassar III. nachweislich mit den Aramäern verbündet war. Dies bestätigt die sog. Monolith-Inschrift von Salmanassar III.) und
• 2.Kön 9, vgl. 10,32; 845 vC; der König von Damaskus, Hasael, kämpfte gegen Israel und das mit diesem verbündete Juda.
Die Zweifel an diesen Interpretationen blieben reichlich und wurden von Ernst Axel Knauf, Albert de Pury, Thomas Römer sowie besonders von Philip R. Davies, Frederick H. Cryer sowie Thomas L. Thompson geäußert – Forscher, die auch sonst durch kritische Stellungnahmen beim Vergleich archäologischer Funde und biblischer Texte hervortreten. Neben eher nebensächlichen Argumenten, die Grabungstechnik, Veröffentlichungsform und epigraphische Argumente thematisierten, gab es sehr ernst zu nehmende Zweifel an Avraham Birans und Joseph Navehs These:
• Warum wurden die beiden Wörter „Haus David“ nicht getrennt?
• Was sollten die Aramäer mit dem (nach ihrer Meinung) kleinen Königreich Davids in der südlichen Levante im Sinne haben und noch dazu in Dan (an der Nordgrenze Israels) aussagen wollen?
• Warum sollte bytdwd nicht weitaus einsichtiger als „Haus des Lieblings(gottes)“ [= dōd//dwd] gelesen werden? Dann wäre hier nicht vom Haus Davids, sondern von dem (uns bisher allerdings unbekannten) in Dan befindlichen Lokalheiligtum die Rede.
• Wieso steht nach „König von Israel“ nicht die Entsprechung „König von Juda“ – bzw. vor der Erwähnung des Hauses Davids nicht die Bezugnahme auf das Herrscherhaus des israelitischen Königs (die assyrischen Berichte kennen z. B. das Haus Omri)?
• Wieso führt in Zeile 6 der aramäische König „mein König“ in seiner Rede? Redet hier vielleicht ein Vasallenkönig vom Herrscher in Damaskus?
Resümierend schreibt Walter Dietrich über die kritische Argumentation: „Je stärker die Abneigung gegen Frühdatierungen und ihre Vorbehalte gegen die historische Verlässlichkeit der Bibel, desto entschiedener fielen Zweifel und Kritik aus.“ Zwei Jahre später – nach dem glücklichen Auffinden und der Veröffentlichung der beiden weiteren Bruchstücke B 1 und B 2 – sah die Situation ganz anders aus. Die Frage nach der Interpretation von Zeile 6, in der der Aramäerkönig von seinem König spricht, erklärte sich aus der Tatsache, dass der aramäische König von seinem himmlischen König (und Gott) Hadad sprach. Außerdem erhärtete sich die ungewöhnliche Zusammenstellung „Israel“ und „Haus David“ als Aufzählung zweier Königtümer, denn im Bruchstück B 2 erscheinen hintereinander zwei mit br (= b(e)n = „Sohn von“) konstruierte Personennamen, dessen erster mit -rm und dessen zweiter mit -jhw endete. Bezieht man nun die Aussage aus Fragment A auf Fragment B 2 und fügt die Bruchstücke derart aneinander, dass nach den beiden Königtümern parallel auch die jeweiligen Könige genannt werden, dann gibt es nur eine Möglichkeit, diese zu interpretieren: Jeho-ram von Israel (850–845 vC) und Ahas-jahu von Juda (845 vC). Damit ist auch die wahrscheinlichste Interpretation des geschichtlichen Umfeldes der Inschrift deutlich Nach 2.Kön 9 kamen tatsächlich beide Könige im Zuge der Aramäerkämpfe ums Leben, wobei dies dort durch die Hand Jehus (845–818 vC), des jahwetreuen Putschisten und neuen israelitischen Königs, geschieht.
In der Tel-Dan-Inschrift bezieht der Aramäerkönig den Tod der beiden Könige auf sich. Sollte der ehemalige Oberst im Nordreich Jehu ein Handlanger des Aramäerkönigs Hasael gewesen sein? Wir wissen es nicht – es liegt aber nahe, wenn die Fragmente A und B 1+2 in der von Avraham Biran und Joseph Naveh vorgeschlagenen Weise angeordnet werden. Doch genau dies sei aufgrund der vorliegenden Bruchstücke nur eine Möglichkeit und nicht zweifelsfrei belegbar, so die Argumente der Kritiker Frederick H. Cryer sowie Thomas L. Thompson, die versuchen, gerade an diesem unsicheren Punkt einzuhaken.
Nun lässt selbst ein oberflächlicher Blick auf die drei Steine der Tel-Dan-Stele (im Original ausgestellt im Israelmuseum, Jerusalem) keinen anderen Schluss zu, denn die Steine passen tatsächlich eindeutig nur in der von Avraham Biran und Joseph Naveh benannten Weise zusammen – wenn auch nicht auf der Schriftfläche (die offenbar den Kritikern als Foto oder Abschrift vorlag), so doch aber in der Tiefe der Bruchstücke. Am Ende ist festzustellen, dass die beiden neu aufgefundenen Fragmente die Textinterpretation zu klären scheinen. Nicht nur die israelitische, sondern auch die davidische Dynastie wird von einer vom Alten Testament unabhängigen Quelle benannt. Damit ist die Existenz Davids als historische Person nicht mehr zu leugnen und eine Extremposition der Minimalisten unmöglich gemacht. Dennoch ist die entscheidende exegetische Frage nach der Machtfülle und Bedeutung Davids ungeklärt und durch diesen Fund auch nicht zu bestimmen.
Die Diskussion zwischen Maximalisten (Existenz eines wirklichen Großreichs Davids) und Minimalisten (Königtum Davids allein als theologisches Konstrukt bzw. David als kleiner Clanchef) über die Existenz und die Bedeutung des Königs David und die Ausdehnung seiner Herrschaft ist noch so offen, wie sie immer war, und wird uns die künftigen Jahre weiter begleiten.