Erzählen, weitererzählen, aufschreiben, überarbeiten, umformulieren ... Die Anfänge der Bibel sind in den Familienclans und ihren Mythen, Legenden, Gesetzen und Erinnerungen zu suchen. Aber im Laufe der Jahrhunderte verändern sich die Texte gewaltig. Bewahren sie noch das, was sie ursprünglich sagen wollten?
Wir befinden uns im 10. Jh. vC: eine Festungsanlage, ca. 30 km südwestlich von Jerusalem, auf der „Anhöhe, von der man weit sehen kann“ (auf Arabisch Qeiyafa). Der Gouverneur der Stadt ruft den höchsten Hofbeamten der Vereinigung der Schreiber zu sich. Dieser setzt sich auf den Boden, stellt ein kleines Gefäß mit schwarzer Tinte zu seiner Linken hin und greift nach einem hölzernen Stab. Dann nimmt er eine große, fast viereckige Tonscherbe, zieht einige waagerechte Orientierungslinien darauf und beginnt die Worte seines Vorgesetzten in großen Buchstaben niederzuschreiben: „Dies sind die Ordnungen und die Rechtsbestimmungen, die ihr halten sollt. Du sollst nichts Böses tun, sondern dem Herrn dienen.“ Da muss der Schreiber die Buchstaben ein wenig breiter schreiben, denn die Scherbe ist unregelmäßig gebrochen. Dann beginnt er eine neue Zeile: „Trachte nach dem Recht für den Sklaven und die Witwe, helfe zum Recht der Waise“ – wieder eine neue Zeile – „und dem Ausländer. Tritt für das Kind, für den Armen und für die Witwe ein. Verteidige den Armen in den Händen des Königs.“ Der Schreiber beginnt eine neue Zeile und hofft insgeheim, dass der Gouverneur bald aufhört, denn es ist nicht mehr viel Platz auf der Scherbe übrig, da sie im unteren Teil ein wenig enger geschnitten ist als im oberen. „Schütze den Armen und den Sklaven, unterstütze den Fremdling.“ Dann erhebt sich der Gesetzgeber, lässt sich den Text vorlesen, nickt zufrieden und verlässt den Raum.
Ungefähr zur gleichen Zeit: ein kleines Heiligtum in der Nähe der Stadt Hebron, wo die Väter und die Mütter des Volkes Israel – Abraham und Sara, Isaak und Rebekka, Jakob und Lea – in einer Höhle begraben sind. Die Priester tanzen im Kreis um einen aus einem einzigen Steinblock gehauenen Altar. Hinter ihnen kommt eine Prozession mit Frauen, die einen immer schneller werdenden Rhythmus auf ihren tragbaren Trommeln skandieren. Der Oberpriester rezitiert mit erhobenen Armen: „Singen will ich dem Herrn, denn hoch erhaben ist er; Pferd und Wagen warf er ins Meer. Die Fluten bedeckten sie, sie fuhren in die Tiefen wie ein Stein. Deine Rechte, o Herr, ist herrlich in Kraft. Deine Rechte, o Herr, zerschmettert den Feind!“ Und das ganze Volk singt mit einer Stimme: „Singt dem Herrn, denn hoch erhaben ist er; Pferd und Wagen warf er ins Meer!“
Die kleine Dina ist besonders eifrig und versucht, sich alle Worte des Priesters ganz genau zu merken. Sie weiß nämlich, dass ihr Großvater, der nur noch unten in dem Zelt vor ihrem Haus sitzen kann, später ganz genau danach fragen wird. Sie liebt es, am Abend bei der Feuerstelle, nachdem alle gemeinsam gegessen haben, ihm zuzuhören, er macht das nämlich noch besser als der Oberpriester. Er erzählt die Geschichte, wie Gott den Mann und die Frau erschaffen hat und wie sie aus dem schönen Garten vertrieben wurden. Dann folgt die Geschichte von Abraham, der seine Familie verließ und in ihr Land kam, und wie Gott auf dem Berg mit Mose sprach und wie das Volk durch die Wüste wanderte. Zugegeben, die beiden Schilderungen sind keine historischen Darstellungen. Das in der ersten Erzählung geschriebene Ostrakon wurde allerdings 2008 in der Tat ausgegraben und das Lied von Ex 15 aus der zweiten Erzählung gilt – für manche – als einer der ältesten Texte der Hebräischen Bibel. Wenn man die Anfänge der Bibel im Hinblick auf volksstiftende Erzählungen erforschen will, kommt man nicht umhin, diese in den mündlichen Überlieferungen innerhalb von Familienclans und kultischen Handlungen zu suchen. Möchte man hingegen die Anfänge hinsichtlich der ersten schriftlichen Zeugnisse von Gesetzgebungen untersuchen, muss man innerhalb der staatlichen bzw. vorstaatlichen juridischen Organisation suchen.
Das Problem: Wer soll angeblich ein biblisches Buch geschrieben haben – und wer hat es tatsächlich verfasst?
Aber wer hat wirklich die Texte der Bibel geschrieben? Und wann? Und warum überhaupt? Nach wie vor besteht eine gewisse Hilflosigkeit, die die Wissenschaft beim Versuch einer Antwort empfindet. Und so haben die meisten Menschen irgendwo im Hinterkopf die diffuse Vorstellung von einem alten bärtigen Mann, der unter der glühenden Sonne Kanaans in seinem Zelt sitzt und Zeichen für Zeichen jene Worte auf Pergament oder Tontafeln ritzt, die er einer göttlichen Eingebung entnommen hat. Zwar wird dieses Bild heute nur noch selten propagiert, doch in manchen Kreisen wird auch wenig unternommen, um es als Irrglauben zu entlarven. Schließlich bestätigt der biblische Text selbst den Mythos seiner unmittelbaren Göttlichkeit, wenn es zum Beispiel im Buch Deuteronomium heißt, es wäre Gott selbst gewesen, der die Zehn Gebote geschrieben und Mose am Berg Sinai übergeben habe, oder wenn eine Vielzahl der einzelnen biblischen Bücher nach den angenommenen Schreibern benannt wurde. Auch im Buch Jesaja und im Buch Ezechiel wird gleich zu Beginn erzählt, dass sie aus der Feder des gleichnamigen Propheten stammen. Ähnlich wie im Buch der Sprüche wird im Hohelied behauptet, es sei von König Salomo persönlich verfasst worden. Zudem werden in der protestantischen Tradition die ersten fünf Bücher immer noch nach ihrem gemutmaßten Autor als „Bücher des Moses“ bezeichnet, obwohl protestantische Exegeten die ersten waren, die die Sinnlosigkeit einer derartigen Annahme demonstrierten. Aber auch im Katholizismus, zumindest außerhalb der wissenschaftlichen Forschung, wird an der Autorenschaft Mose meist noch festgehalten. So haben Generationen von Bibellesern problemlos akzeptiert, dass eine große Anzahl der schönsten und aussagestärksten Psalmen von König David gedichtet worden sei oder dass Mose am Berg Nebo von seinem Tod und der für ihn zur Farce gewordenen Sehnsucht nach dem Gelobten Land – er könnte das Land zwar vom Gipfel des Berges betrachten, dürfte aber nicht hinein – geschrieben habe.
Jahrhundertelang sind Annahmen wie diese gelehrt worden und sie wurden erst verhältnismäßig spät wissenschaftlich hinterfragt. Dabei sind die Spannungen, die den aufmerksamen Bibellesern diesbezüglich auffallen, eklatant: Der Mensch wird gleich zweimal erschaffen, die Gründe für den Sintflutregen sowie die Anzahl der Zeichen in Ägypten („Plagen“) sind nicht wirklich bestimmbar, Gott wird mit mindestens vier unterschiedlichen Bezeichnungen angeredet, viele der Gesetze kommen mehrmals vor und, obwohl alle dem Mose zugeschrieben werden, widersprechen sie sich zum Teil einander. Historische Unwahrheiten und Anachronismen stehen gehäuft nebeneinander. Die Stadt Jericho etwa soll zu einer Zeit erobert worden sein, als sie nach modernen archäologischen Kenntnissen längst nur noch eine Ruine gewesen ist. Der Riese Goliat trägt Waffen, die zur Zeit des – wohl unhistorischen – Kampfes gegen David noch nicht erfunden waren, und im Buch Jesaja erkennt man mindestens 300 Jahre Historie, die wie Ereignisse im Laufe eines einzigen Menschenlebens nachgedichtet werden. Es stellt sich unweigerlich die Frage, wie es sein kann, dass einem einzelnen, allwissenden Erzähler derart schwerwiegende Fehler unterlaufen konnten oder wie viele Hundert Jahre ein Jesaja hätte leben müssen, um bei all dem, wovon „er“ berichtet, dabei gewesen sein zu können. Hätten sie dann nicht im selben Moment an ganz unterschiedlichen Schauorten der Geschichte zugegen gewesen sein müssen? Die Summe dieser Unstimmigkeiten, von denen hier nur die augenfälligsten aufgelistet sind, hat etwas Peinliches an sich, und so entschied man sich 1943 unter Papst Pius XII. auch innerhalb der katholischen Kirche, die biblische Autorenschaft lieber nicht mehr als per Dogma zu entscheidende Glaubensfrage behandeln zu wollen. Allerdings sind seitdem zahlreiche und zum Teil gegensätzliche Theorien über das Entstehen der Schriften der Hebräischen Bibel formuliert worden, wobei selbst die prominentesten Forscher immer wieder zugeben mussten, mit ihren Deutungsversuchen an Grenzen gestoßen zu sein.
Biblische Texte als Krisen- und Widerstandsliteratur
Mit jeder weiteren fehlgeschlagenen These schwand der Optimismus, doch noch zu einem einzigen großen Rekonstruktionsmodell zu gelangen, und umso bescheidener und desillusionierter wurden im Laufe der Jahre die Vorstöße der einzelnen Alttestamentler. Vorläufiges Fazit der biblischen Autorensuche ist, dass der Großteil der Wissenschaftler heute davon ausgeht, dass kein einziges Buch des Alten Testamentes – höchstens mit Ausnahme von Jesus Sirach – von dem im Text angegebenen oder von den Kirchen jahrhundertelang angenommenen Autor verfasst worden ist. Ebenso wenig hat Baruch, der literarische Sekretär des Jeremia, das Buch seines Meisters wie Mose die ersten fünf Bücher der Tora geschrieben. Allgemein anerkannt ist des Weiteren, dass im Hintergrund aller biblischen Erzählungen mündlich überlieferte und später auch schriftlich fixierte Mythen, Legenden, Traditionen, aber auch historische Notizen (z. B. Königslisten) stehen, die aus einem viel älteren kulturellen Umfeld stammen, das noch nicht einmal immer jüdisch gewesen sein muss. Die Frage nach dem Autor der Bibel muss also neu gestellt werden.
Anders als in der heutigen Gesellschaft mit ihrem Überangebot an medialem Input, war die Verschriftlichung mündlicher Kulturgüter am Beginn des 1. Jt.s vC eine Seltenheit. Steintafeln, Papyri oder Pergamentrollen wurden nur beschrieben, wenn es unbedingt erforderlich war. So entstand der Großteil der Texte, die wir gegenwärtig unter dem Begriff „Bibel“ zusammenfassen, in Krisensituationen, da es der jeweiligen (meist religiösen) Führungsschicht ratsam erschien, Maßnahmen zu treffen, um die Volksgemeinschaft vor religiöser, politischer und kultureller Entwurzelung zu schützen und deren Identität zu sichern.
Die erste Krise: Die erste dieser Krisensituationen war die Zerstörung des Nordreiches Israel durch die Assyrer, die 722 vC die Hauptstadt Samaria eroberten. Kreise von Gebildeten im Südreich (Juda) begannen draufhin, ihre eigenen Texte niederzuschreiben. Dabei verarbeiteten sie sehr wahrscheinlich auch bereits schriftliche Traditionen aus dem Nordreich. Assyrien als herrschende militärische und kulturelle Eroberungskraft beeinflusste jedoch massiv die Arbeit dieser Gelehrten. Die vermutete Urfassung des Buches Deuteronomium ist zum Beispiel wie ein assyrischer Vasallenvertrag aufgebaut. Hier zeigt sich die Art und Weise, wie alle Schriften der Hebräischen Bibel entstanden sind. Sie sind das Resultat von Schriftgelehrtenarbeit. Es waren Experten, die mit großem Bedacht die Texte, die wir heute „Bibel“ nennen, formulierten, um- und fortschrieben.
Die zweite Krise: Die zweite Krise hängt mit der sogenannten Exilszeit zusammen, als Jerusalem 587 vC vom Großreich der Babylonier zerstört wurde, der für den Kult zentrale Tempel verwüstet, die Stadt verbrannt wurde und die jüdische Oberschicht mit ihren Priestern und Gebildeten nach Babylon verschleppt wurden. Genau dieser Gruppe der Gebildeten aber, die ungefähr 5 bis 10 % der Bevölkerung ausgemacht haben dürfte, ist nach dem aktuellen Stand der Forschung die schriftliche Fixierung der in dieser Zeit entstandenen biblischen Werke zu verdanken. Um die Katastrophe vom Verlust der politischen und kulturellen Souveränität auf religiöser Ebene verarbeiten zu können, konstruierten diese ehemaligen Hof- und Tempelbeamten zunächst eine sich vom Deuteronomium bis zu den Königsbüchern erstreckende Geschichtsdarstellung. Sie gebrauchten dabei ein sehr einfaches und in seiner Klarheit überzeugendes Deutungsmuster: Die Gesetze, die dem Volk Israel von Gott aufgegeben und im Buch Deuteronomium zusammengefasst worden sind, wurden nicht eingehalten. Also hat Gott zur Strafe die nationale Tragödie des Exils herbeigeführt. Dennoch ließen sie unterschiedliche Stimmen zur Sprache kommen, da sie nicht vereinheitlichen, sondern verschiedene Perspektiven aufzeigen wollten. Neben dieser negativen Erklärung wollte man aber auch Hoffnung für die Zukunft geben und so bemühte man sich, in der Konfrontation mit den Göttern und Mythen der Eroberer, den Beweis zu führen, dass der eigene Gott, der Gott Israels, stärker sei als die Götzen der siegreichen Großmacht. Dafür verwendeten und aktualisierten sie alte Traditionen: Welt und Gestirne, so berichtet die Genesis, sind Gottes Werk; Sonne, Mond und Sterne, welche die Babylonier als Götter anbeteten, sind auch seine Geschöpfe. Er erschuf außerdem den Menschen in Würde und Einzigartigkeit als das Abbild Gottes, als Gegenüber und nicht wie im Fall der Fremdkultur als Sklaven. Die mündlich überlieferten und bereits bekannten Geschichten der Erzeltern und der Geburt des Volkes unter Mose zeigen folglich, wie Gott den von ihm ins Leben gerufenen Menschen leitet und schützt. Er schenkt schließlich seinem Volk das Land, was für die Exilierten gleichsam zu einem Hoffnungsbild werden sollte.
Nach Ende des Exils, also etwa im letzten Drittel des 4. Jh. vC dürfte es dann so weit gewesen sein, dass eine Gruppierung innerhalb des priesterlichen Milieus den Erzählkomplex vom ersten bis zum fünften Buch der Bibel veröffentlichte: die Tora. Ebenfalls in exilische Zeit – und noch bis ins 3.Jh. vC hinein – fällt auch die Redaktion vieler Prophetenbücher, die unmittelbar die Tora aus unterschiedlichen Blickwinkeln kommentierten und nicht selten auch kritisierten. In manchen Fällen, wie z. B. beim Deuteronomium und beim Buch des Jeremia, kann man sich sogar einen „dialogischen Prozess“ vorstellen. Autoren reagierten auf Texte von anderen Autoren und andersherum. Somit bleibt nicht nur die Endfassung erhalten, sondern der gesamte Prozess ist in den Texten wiederzufinden. Am Werk waren dabei natürlich nicht einzelne Propheten, die ihre Lehre selbst niedergeschrieben haben, sondern wiederum kleine Gemeinschaften von gebildeten Schriftgelehrten, sogenannte Prophetenschulen. Diese haben sich in der zunächst mündlich überlieferten Botschaft eines realen Propheten wiedererkannt und im Laufe der Zeit dessen Leben und Predigt in Texten festgehalten, ergänzt, weiterentwickelt und somit interpretiert. Manche dieser Kollektive waren priesterlich oder konservativ geprägt (Ezechiel, Joël, Micha), andere hingegen vertraten eine tolerantere Einstellung gegenüber fremden Völkern und Kulturen (Jesaja, Jeremia, Jona). Besonders deutlich sind die Spuren dieser Redaktionsteams in den Büchern Micha und Jesaja vorzufinden, wo immer wieder ein Wir als Subjekt von zentralen Aussagen steht. Die unterschiedlichen Meinungen und Blickwinkel blieben auch hier nebeneinander bestehen.
Die dritte Krise: Die dritte große Krise wurde gut zwei Jahrhunderte später ausgelöst, allerdings nicht durch eine gewaltsame politische Eroberung, sondern durch eine kulturelle. Nach den siegreichen Kriegszügen von Alexander dem Großen musste sich die damalige Welt, darunter auch das Judentum, mit der griechischen Kultur, dem Hellenismus, auseinandersetzen. Die Bibel wurde erstmals ins Griechische übersetzt. Von manchen in diesen Tagen verfassten biblischen Texten weiß man, dass sie in Alexandria in Ägypten geschrieben wurden, einem der kulturellen Zentren des Hellenismus. Zu jener Zeit wurden die bereits bestehenden Texte noch einmal überarbeitet, außerdem entstanden die Weisheitsbücher und die späten Geschichtsbücher (Makkabäer, Chronikbücher), wobei sich die einzelnen Werke auf sehr unterschiedliche Art und Weise mit den Themen der jüdischen Tradition auseinandersetzen. Neben universalistischen Büchern, in denen versucht wird, eine Synthese zwischen Judentum und Hellenismus zu schaffen – wie Ijob, Sprüche, Weisheit, Hohelied oder Kohelet –, stehen Erzählungen, die einen stark ausgeprägten Nationalismus vertreten – wie die Makkabäerbücher oder Daniel. Wiederum ist hier der Autor kein Einzelner. Denn nach dem Modell der griechischen Philosophenschulen wurde es bald auch unter den Juden üblich, sich im Freundes- und Schülerkreis oder in losen Verbänden Gleichgesinnter zu treffen und den philosophischen/religiösen Diskurs über die Welt, Gott und den Menschen zu pflegen. Im dabei unternommenen Versuch, die immer gültigen Gebote Gottes mit dem Zeitgeist in Einklang zu bringen, kam der Austausch zwischen den Lehren der großen griechischen Philosophen und der jüdischen Überlieferung in Gang, welcher die biblischen Werke dieser Periode charakterisiert.
Rückblickend ist anzunehmen, dass an diesen Gesprächsgruppen auch Frauen teilgenommen haben oder dass es reine Frauenkreise gegeben haben könnte, deren Interesse verstärkt dem Leben und religiösen Vorbild großer Frauen in der Geschichte Israels gegolten haben mag. In den Büchern, von denen man vermutet, dass sie von weiblich geprägteren Kreisen redigiert worden sein könnten (Rut, Judit, Tobit, Ester), rücken Frauen vermehrt in den Mittelpunkt. Auch hier ist als Verfasser ein Kollektiv am Werk, nicht aber eine historische Mirjam, Schwester des Mose, oder eine Richterin Debora, die Mutter des Samuel, oder Judit, die Holofernes bezwang. Etwas versteckter findet sich das Wirken engagierter Jüdinnen in jenen biblischen Texten, die zwar Männern zugeschrieben werden, jedoch einen klar femininen Einschlag erkennen lassen. Zu nennen wären dazu einige Psalmen (zum Beispiel 6, 10, 12 und 45), die Klagelieder sowie die beiden großen Prophetenbücher Jeremia und Jesaja, wobei Letzteres mit seinem weiblichen Gottesbild – Gott als Mutter (z. B. Jes 49,15; 66,13) – einen sehr schönen und bedeutungsvollen Gegensatz zur männlich dominierten Gottesvorstellung der Bibel bildet.
Texte für die Identität und nicht für die Geschichtsdarstellung
Die Bibel, so muss man summa summarum feststellen, ist nicht von Gott diktiert und sie ist auch nicht von einzelnen begnadeten Sehern niedergeschrieben worden. Vielmehr ist sie eine Sammlung von Texten. In ihrer Vielfalt sind sie in kleineren und größeren professionellen Gelehrtengruppen erarbeitet, diskutiert und schließlich verschriftlicht worden. Sie waren in der Kultur ihrer Zeit beheimatet und auch international vernetzt. Die alten maßgebenden Traditionen wollte man nicht vergessen, sondern umformulieren und aktualisieren. Die Autoren wollten auch nie nur historische Tatsachen festhalten. Sie wollten Identität stiften und Auslegungsalternativen anbieten. Bedeutet diese Erkenntnis einen Verlust an Autorität? Zunächst mag es so scheinen. Auf den zweiten Blick wird man aber feststellen, dass gerade in diesem Verlust ein Gewinn an Identifikationspotenzial für die Leser aller Jahrhunderte liegt: Über einen Umweg gewinnt die Schrift ein Mehr an sinnvoller Autorität. Eine Autorität nämlich, die nicht direkt von Gott diktiert ist, sondern die daher kommt, dass sie von vielen konkreten und vermutlich sehr unterschiedlichen Menschen nachvollzogen worden ist und die insofern als dialogisch angesehen werden kann. Somit bleiben die biblischen Texte, auch wenn man nicht genau weiß, wer, wann, was geschrieben hat, durch die Jahrhunderte aktuell und immer neu aktualisierbar.
[Von Prof. Dr. Simone Paganini, lehrt Biblische Theologie an der RWTH Universität in Aachen.]