Gleich vor Gott – und untereinander?
03.07.2024 Ambivalente Umgangsweisen mit Sklaverei im Neuen Testament Teil 3
Von Prof. Dr. Christian Blumenthal, Lehrstuhlinhaber für Exegese des Neuen Testaments an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn.
Gehorcht euren Herren – „Haustafeln“ in Kol, Eph und 1 Petr
Die beiden „klassischen“ Haustafeln finden sich in Eph 5,21–6,9 und Kol 3,18–4,1, eine Variante beispielsweise in 1 Petr 2,13–3,7. Diese „Haustafeln“ fordern die Sklaven im Haus auf, ihren irdischen Herrn in allem uneingeschränkt zu gehorchen:
Während der Kolosserbrief diese umfassende Forderung mit Verweis auf die Ehrfurcht gegenüber dem himmlischen Herrn motiviert, geht Eph 6,5 noch einen Schritt weiter: Die Sklaven sind aufgerufen, den irdischen Herrn zu gehorchen „wie dem Christus“. Anschließend wendet sich Eph 6,9 aber auch an die Herren selbst und fordert diese auf, ihren Sklaven Gutes zu erweisen und ihnen nicht zu drohen. Beim Umgang mit ihren Sklaven sollen sich die Herren vor Augen führen, dass sie und ihre Sklaven einen gemeinsamen Herrn haben, nämlich Jesus Christus. Mit ihrer Forderung auch an die Herren suchen der Epheser- und Kolosserbrief, Willkür aus der Herr-Sklaven-Zuordnung zumindest ansatzweise zu eliminieren.
Anders setzt 1 Petr 2,18-20 an, wo eine Ermahnung der irdischen Herren unterbleibt. Stattdessen sehen sich die Sklaven mit der Forderung konfrontiert, auch „launenhaften“ Herren stets gehorsam zu sein. Diese Forderung sucht 1 Petr 2,20 noch theologisch „abzufangen“: Erfährt der rechtschaffene gehorsame Sklave Leid von seinem „verkehrten Herrn“, ist dies nach 1 Petr 2,20 eine Gnade bei Gott. Für sich betrachtet provoziert eine solche Anweisung eine existenzielle Differenzerfahrung. Diese Erfahrung besteht im immensen Unterschied zwischen dem Status, Erwählte und Mitglieder des endzeitlichen Gottesvolkes zu sein, und der schutzlosen Alltagsrealität von Sklaven, welche der Willkür (nichtchristlicher) „verdrehter“ Herren völlig ausgeliefert sind.
Auf diese Erfahrung will 1 Petr mit seinem „Identitätsmanagementprojekt“ reagieren, und dazu trägt – paradoxerweise – auch die Gehorsamsforderung an die Sklaven bei. Wie schon Jesus oder Paulus bemüht sich auch 1 Petr darum, einen Erfahrungsraum der neuen Heilswirklichkeit inmitten der Welt und ihren prekären sozialen Strukturen zu schaffen. Literarisch nutzt 1 Petr dazu das Bild eines geistlichen Hauses: Dieses Haus entsteht durch das Hinzutreten der Erwählten und ist gleichermaßen als geistlicher und sozial wahrnehmbarer Raum konzipiert. Es gewinnt seine konkrete Gestalt und Ausdehnung im Herrschafts- und Werteraum der reichsrömischen Gesellschaft. In diesem Haus kann die Gemeinde im Hier und Jetzt die Zugehörigkeit zur neuen Wirklichkeit konkret erfahren, und zwar im Wissen darum, dass das endgültige Heil im Himmel sicher und von irdischen Gegnern unerreichbar aufbewahrt ist. Eine solche realweltlich verortete und sozial fassbare endzeitliche Existenz soll zeichenhaften Charakter für die pagane Mitwelt haben und so dazu beitragen, dass am Tag der Heimsuchung auch die Mitglieder der paganen Gesellschaft Gott loben. Auf dieser Spur ist dem eingeforderten Lebenswandel eine werbende Brückenfunktion in die pagane Mehrheitsgesellschaft hinein zugeschrieben. Bei Außenstehenden, so ist impliziert, kann die Lebensweise ein Interesse für die zugrunde liegenden theologischen Beweggründe wecken.
Diese Idee ist vor allem für Sklaven unter „launenhaften“ Herren eine extreme und kaum aushaltbare Herausforderung. Im Sinne einer zeichenhaften Existenz sind sie gefordert, ihre „verkehrten“ Herren dadurch nachdenklich zu stimmen, dass sie deren Willkür geduldig ertragen. Vielleicht – so hofft 1 Petr – provoziert diese Lebensweise bei den „verdrehten“ Herren die Frage, warum sich ihre Sklaven so verhalten. Das geduldige Ertragen würde zur non-verbalen Christusverkündigung. Bei allen berechtigten Anfragen an diese Strategie deutet sie doch auf die Absicht von 1 Petr hin, den Sklaven in aller Unterdrückungs- und Willkürerfahrung etwas Handlungshoheit zu vermitteln, ohne zu vertrösten: Sie setzen sich durch ihr Ertragen aktiv für die Christusbotschaft ein. Die Wahl dieser Strategie spricht womöglich auch für den begrenzten Einfluss von 1 Petr auf (nicht-christliche) Sklavenhalter.
Die Gratwanderung, welche das „Identitätsmanagementprojekt“ den Sklaven in der Gemeinde abverlangt, bestimmt die Positionierung von 1 Petr zur Mitwelt generell. Der Brief fordert seine Adressaten durch alle sozialen Schichten hindurch auf, der Mehrheitsgesellschaft keinen Anlass zu Vorwürfen oder Anfeindungen im irdisch-gesellschaftsöffentlichen Bereich zu geben. Über diesen Weg einer Absage an die Totalverweigerung gegenüber den Rollenerwartungen der paganen Mitwelt bei gleichzeitiger Ausprägung eines eigenen unverzichtbaren Ethos bewegt sich 1 Petr auf einem schmalen Grat: Er versucht einen Balanceakt zwischen einer Anschlussfähigkeit an die Mitwelt und der Etablierung eines unterscheidenden Lebensstils. Damit versucht er die Tür für einen christlich-paganen Diskurs offen zu halten und zugleich der aktuellen Ablehnungs- und Differenzerfahrung konstruktiv zu begegnen.
Irritierend, provozierend, ambivalent – ein Fazit
Die Sklaventexte im Neuen Testament fordern heraus. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie von Sklaven oder von Gott als Sklavenhalter sprechen, irritiert und provoziert genauso wie das fehlende „Nein“ zur Sklaverei. Bevor man aber diese Texte einseitig als status-konservierend beiseitelegt, sollte man doch eine Rückfrage an sie richten: Inwieweit tragen sie gegebenenfalls auch dazu bei, potenzielle Willkürerfahrungen für Sklavinnen und Sklaven strukturell zu reduzieren und so auch für diesen Personenkreis die neue Wirklichkeit „in Christus“ (wenn auch nur ansatzweise und gebrochen) erfahrbar zu machen? Zudem sensibilisiert eine kritische Lektüre neutestamentlicher Sklaventexte dafür, nach (verdeckten) Machtstrukturen und starken asymmetrischen Abhängigkeitsverhältnissen zu fragen. Wo werden solche Strukturen auch innerhalb der Christus-Gemeinden rezipiert und etabliert? Wo wirken alltägliche Abhängigkeitsstrukturen und soziale Statusunterschiede innergemeindlich (subtil) weiter? Wie ordnen die neutestamentlichen Schriften Gott, Jesus und die Menschen einander zu? Welche Formen von starken Abhängigkeiten und ausgeprägten Hierarchien begegnen einem wo?Wendet man sich mit solchen Fragen neutestamentlichen Sklaventexten zu, wird man an eine im Grunde banale Tatsache erinnert: Die Texte sind in ihren literarischen und historischen Zusammenhängen zu betrachten. Würde man sie aus diesen Kontexten isolieren, könnten sie gegen ihre ursprüngliche Intention dazu missbraucht werden, soziale und rechtliche Statusunterschiede biblisch zu legitimieren oder Sklaverei als soziale Institution „theologisch“ zu festigen. Man könnte die Texte darauf reduzieren, auf ein „besseres Jenseits“ zu vertrösten. So würde man sie ihres gesellschaftskritischen Potenzials berauben. Ein solcher Missbrauch würde aber nicht nur die soziale Dimension der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu völlig ausblenden; er würde auch die Doppeldeutigkeit des paulinischen Sklavenbegriffs übergehen und die Ermahnung der Herren in den Haustafeln im Kolosser- und Epheserbrief zu wenig würdigen.
Aber selbst bei aller historischen und kontextuellen Einordnung kommt man nicht umhin, die Provokationen und Ambivalenzen der Sklaventexte auszuhalten. Sie bewegen sich im Spannungsfeld von Status-Konservierung und dem Versuch, das Leben einzelner Sklavinnen und Sklaven ansatzweise zu verbessern. Ohne ein generelles „Nein“ zur Sklaverei zu sagen, zielen zahlreiche dieser Texte doch auf eine konkret erfahrbare Verbesserung gesellschaftlicher Realitäten im Licht der Gottesherrschaft und der heilvollen Endzeit ab.