... Joschua den Ältesten, die Ältesten den Propheten, und die Propheten den Leuten der großen Synode ...
Was ist das rabbinische Judentum? Teil 2
Hat die legendäre „Synode von Javne“ tatsächlich stattgefunden?
Der Beginn der Epoche mit Rabban Jochanan ben Sakkai wird in der rabbinischen Literatur in einer Erzählung eindrucksvoll dargestellt, die in vier leicht unterschiedlichen Versionen über liefert ist. Demnach ließ sich Rabban Jochanan während der römischen Belagerung Jerusalems als angeblich Toter in einem Sarg aus der Stadt heraustragen – denn einen Lebenden hätten die jüdischen Aufständischen als vermeintlichen Überläufer nicht herausgelassen. So gelangte er zum Feldherrn Vespasian. Diesen grüßte er als Herrscher, und nach drei Tagen brachte tatsächlich ein Bote aus Rom die Nachricht, dass der amtierende Kaiser gestorben und Vespasian zum Kaiser ausgerufen sei. Daraufhin gewährte Vespasian Rabban Jochanan eine Bitte: Dieser bat darum, sich in Javne [יַבְנֶה, knapp 30 km südlich von Tel Aviv-Jaffa] niederlassen und dort eine Schule gründen zu dürfen. Daran anschließend bildete sich in der älteren Forschung aufgrund rabbinischer Texte, die Vorgänge in Javne erwähnen, die Vorstellung von einer »Synode von Javne« (»Synode von Jamnia«). Hier sollen Häretiker, vor allem Judenchristen, ausgegrenzt und der Kanon der jüdischen heiligen Schriften festgelegt worden sein – und damit habe das pharisäische Judentum den Sieg über andere jüdische Gruppierungen der Zeit des Zweiten Tempels davon getragen. Die neuere Forschung stellt sowohl die Gründungslegende als auch das Stattfinden der Synode infrage. Eine genaue Untersuchung der relevanten Texte ergab, dass sie Javne keineswegs den vollen Abschluss des Kanons zuschreiben, sondern es allenfalls um die Kanonisierung von Hohelied und Kohelet ging, während die Kanonizität der Bücher Sprüche und Ester auch noch in späteren Texten diskutiert wird. Ein fester Text für die Verfluchung der Häretiker im Gebet, euphemistisch “Segen über die Häretiker“ [בִּרְכַּת הַמִּינִים, Birkat haMinim] genannt, der angeblich gegen Judenchristen gerichtet ist, lässt sich ebenfalls nicht nachweisen. Darüber hinaus haben vor allem die Qumranfunde, die den Einfluss priesterlicher Kreise auf das Judentum in der Epoche um die Zeitenwende dokumentieren, ab den 1950er-Jahren dazu beigetragen, die Vorstellung zu erschüttern, dass die Pharisäer die stärkste jüdische Gruppe in den Jahrzehnten vor der Zerstörung des Tempels waren. Dies erschütterte im gleichen Zug die Vorstellung von den Rabbinen als ihren Nachfolgern – und als der nach der Zerstörung Jerusalems sofort bereitstehenden zentralen Autorität des Judentums. Das ging einher mit einem wachsenden Bewusstsein dafür, dass für die Zeit nach 70 fast nur rabbinische Quellen zur Verfügung stehen, die natürlich ein Interesse daran haben, die eigene Bewegung als die von Beginn an dominante darzustellen. Und selbst diese Quellen spiegeln einen Gegensatz zwischen dem rabbinischen Lehrhaus und der Synagoge, jener Gemeindeinstitution, in der sich möglicherweise der Einfluss der priesterlichen Kreise hielt, wider.
Was also kann man festhalten? Eine eher konservative Einschätzung hält an der Existenz der Schule Rabban Jochanans in Javne fest, sieht aber ihre Stellung als zentrale Autorität für das Judentum als Produkt einer Entwicklung mehrerer Jahrzehnte – bis zum Bar-Kochba-Aufstand, der im Jahr 132 begann. Demgegenüber versteht der US-amerikanische Religionsphilosoph Daniel Boyarin die Javne-Erzählungen als einen Ursprungsmythos, der die späteren rabbinischen Strukturen – Lehrhäuser, Diskussionskultur, unendliches Studium als Form von Gottesdienst – in das Javne unmittelbar nach der Tempelzerstörung rückprojiziert. Dieser Ursprungsmythos stamme frühestens aus den Jahren nach der Niederschlagung des Bar Kochba-Aufstandes im Jahr 135, die eine noch größere Katastrophe bedeutete als die Tempelzerstörung. Denn sie zog die Zerstörung Südpalästinas und das Verbot der Ausübung religiöser Praxis durch die Römer nach sich. Die Akzeptanz der rabbinischen Institutionen als die „orthodoxe“ jüdische Autorität wäre sogar ins 4., wenn nicht erst ins 6. Jh. zu verlagern, und andere Strömungen im Judentum bildeten bis dahin noch eine Konkurrenz.
Waren die Rabbinen Pharisäer?
Auch die Frage, ob man die Rabbinen einfach als Nachfolger der Pharisäer sehen kann, wird diskutiert. Die Tannaiten, also die Rabbinen der ersten Jahr hunderte, nennen sich selbst nie Pharisäer, sondern bezeichnen mit diesem Begriff von ihnen abgelehnte Separatisten. Umgekehrt wird der Glaube der Tannaiten an die mündliche Tora nirgendwo als spezifischer Glaube der Pharisäer erwähnt. Rabban Gamliel I. und sein Sohn Schimon werden von Flavius Josephus und im Neuen Testament zwar als „Pharisäer“ bezeichnet, aber das heißt nicht, dass alle Glieder der Traditionskette im Mischna-Traktat Avot Pharisäer waren. Eine genaue Lektüre zeigt eine Unebenheit in der Kette: Einerseits folgen auf Hillel und Schammai Rabban Gamliel I. und seine Nachfahren, unter denen sich schließlich das Amt des Patriarchen, der höchsten jüdischen Autorität Palästinas, vererben wird – bis zur Auflösung des Amtes durch Theodosius II. um das Jahr 425. Andererseits wird von Rabban Jochanan ben Sakkai gesagt, dass er von Hillel und Schammai „empfing“, und er ist der Letzte, von dem dieser Ausdruck für die Überlieferung der Tradition gebraucht wird. Darin spiegelt sich ein Machtkampf zwischen Rabban Jochanan und dem Haus Gamliel wider. Rabban Jochanan hatte zwar Schüler, vererbte aber kein Amt. Und das Haus Gamliel berief sich auf Hillel und einen davidischen Ursprung, wird in der Kette aber gerade nicht als pharisäisch dargestellt. Möglicherweise waren also die Rabbinen Nachkommen der Pharisäer, wollten es aber nicht zeigen, da sie sich nicht als Gruppe unter anderen, sondern als grundsätzliche Orthodoxie darstellen wollten. Anstelle sektiererischer Zerstrittenheit – wie unter Sadduzäern, Pharisäern und der Gemeinde von Qumran in der Zeit vor der Tempelzerstörung – entwickelten die Rabbinen mit ihrer Diskussionskultur ein Modell des Zusammenlebens in Diversität.
Gab es die berühmte rabbinische Diskurskultur von Anfang an?
Diskurs ist sicher charakteristisch für das, was heute rabbinisches Judentum genannt wird. Berühmt ist die Stelle im Babylonischen Talmud Eruvin 13b: „Drei Jahre lang stritten die Schule Schammais und die Schule Hillels. Diese sagen: Die geltende Vorschrift ist, wie wir es lehren, und jene sagen: Die geltende Vorschrift ist, wie wir es lehren. Da kam eine Himmelstimme herab und sagte: Diese und jene sind Worte des lebendigen Gottes, und die geltende Vorschrift ist wie die Schule Hillels. Und wenn diese und jene Worte des lebendigen Gottes sind, wieso fiel es der Schule Hilles zu, dass sich die geltende Vorschrift nach ihr richtet? Weil sie verträglich und demütig waren und ihre Worte und die Worte der Schule Schammais lehrten. Und nicht nur das, sondern sie stellten die Worte der Schule Schammais ihren Worten voran.“
Aber kann man den Anfang dieser Diskurskultur, die sich auf die Vielfalt des göttlichen Wortes beruft, bereits in der Zeit von Javne finden? Und die auf diesem Boden erwachsene Mischna als das erste Zeugnis dafür lesen? Im Mischna-Traktat Sanhedrin 10,1 findet sich vielleicht zum ersten Mal eine Glaubensregel, die festlegt, wer orthodox ist und wer nicht: „Diese sind die, die keinen Platz in der kommenden Welt haben: Einer, der die Auferstehung der Toten leugnet, einer, der leugnet, dass die [mündliche] Tora vom Himmel kommt und [jüdische] Epikuräer.“ Mit der Verankerung der mündlichen Tora in der Sinai-Offenbarung schuf sich das rabbinische Judentum die älteste und höchste mögliche Legitimation, konkurrierende zeitgenössische Praktiken und Glaubensformen als Abweichung von der ursprünglichen Lehre zu disqualifizieren. In der Tosefta – etwa zeitgleich der Mischna – heißt es, dass es ursprünglich keine Meinungsverschiedenheiten gab. Die Meinungsverschiedenheiten nahmen aber Überhand, als eine wachsende Zahl von Schülern Hillels und Schammais die Lehren ihrer Meister nicht gründlich genug lernten, bis aus der einen Tora, der einen umfassenden Weisung Gottes, zwei wurden, und dieses Phänomen wird eindeutig negativ gesehen. Auch nach dem oben zitierten Text wird die Erkenntnis, dass die Worte der beiden Schulen beide Worte des lebendigen Gottes sind, erst nach drei Jahren scharfen Streites gewonnen. Man kann also schließen, dass die rabbinische Bewe gung einen Prozess durchlief, bis sie zur Wertschätzung des Diskurses kam. Es lässt sich sogar ein Text aus machen, der genau eine solche Wandlung des Rabbinismus von einer zentralen Autorität zu einer „demokratisch-pluralistischen“ Kultur dokumentiert: die Geschichte im Babylonischen Talmud Berachot 27b 28a von der Absetzung Rabban Gamliels II. als Protest dagegen, dass er seine Autorität missbraucht und Rabbi Jehoschua gedemütigt hatte. Rabban Gamliel hatte Rabbi Jehoschua in einem Streit über das richtige Datum des Versöhnungstages gezwungen, an dem Tag, den dieser für den Versöhnungstag hielt, vor ihm mit Rucksack und Stock zu erscheinen als Zeichen dafür, dass es – wie nach der Berechnung Rabban Gamliels – ein Werktag war. Das rabbinische Judentum des 2. und 3. Jh.s definierte sich durchaus autoritär als Orthodoxie im Gegensatz zu Häretikern. Erst die anonymen Rabbinen, die im 5. bis 6. Jh. den Babylonischen Talmud redigierten, erhoben den endlosen Disput um des Disputs willen zu einem gottgewollten Prinzip, das bis zu der Ansicht führen kann, dass Gott selbst sein Wort oder Handeln nicht erklären kann oder will – vgl. die Antwort Gottes auf Moses Fragen, warum er die Tora nicht statt durch ihn durch den viel begabteren Rabbi Akiva gegeben hat und warum Rabbi Akiva trotz aller Gelehrsamkeit schließlich das Martyrium erlitt: „Schweig! So habe ich es beschlossen“ (Babylonischer Talmud Menachot 29b).