[Von Prof. Dr. Bernhard Maier, Professor für Allgemeine Religionswissen-schaft und Europäische Religionsgeschichte an der Universität Tübingen]
Schon im 2. Jh. gelangte das Christentum auf die britische Hauptinsel, in das Gebiet, das die Legionen Roms erst wenige Jahrzehnte zuvor erobert hatten. Bis zum „Zeitalter der Heiligen“ im 6. Jh. prägte aber die Auseinandersetzung mit einer bunten Schar von Kulten das Bild.
Vermutlich im 3. Jh. lebten die ersten namentlich bekannten britannischen Christen Julius, Aaron und Alban, die nach dem Zeugnis sehr viel späterer Quellen während einer Christenverfolgung den Märtyrertod erlitten. Zu jener Zeit konkurrierte das Christentum noch mit den staatlich geförderten römischen Kulten, aber auch mit der Religion der romanisierten Britannier, die aus einer Verschmelzung einheimischer keltischer und antik-mediterraner Einflüsse entstand.
Erste Spuren im 4. Jh.
Für das Jahr 314 berichten die Akten des Konzils von Arles von der Teilnahme dreier britannischer Bischöfe, was auf die Existenz einer kirchlichen Hierarchie und territorialer kirchlicher Strukturen schließen lässt. Dazu passt die Erwähnung eines Bischofs namens Exuperius (Exsuperius episcopus) in der Inschrift einer römerzeitlichen Silberschale, die 1729 in dem kleinen Ort Risley zwischen Derby und Nottingham gefunden wurde. Gleichwohl bleibt die gelebte christliche Religiosität jener Zeit für uns weitgehend unsichtbar, da schriftliche Quellen fast völlig fehlen. Im archäologischen Fundgut bezeugen immer wieder Symbole wie das Kreuz oder der Fisch die Anwesenheit früher britannischer Christen, die sich damals noch eher in Wohnhäusern als in eigens dafür errichteten Kirchenbauten versammelt haben dürften. Berühmt ist das in den 1960er-Jahren entdeckte Fußbodenmosaik eines Gebäudes bei Hinton St. Mary in Dorset, dessen Mittelpunkt eine Büste mit dem Chi-Rho-Monogramm im Hintergrund zeigt – vielleicht die älteste Darstellung Christi in England. Als Kaiser Theodosius am Ausgang des 4. Jh. die heidnischen Kulte endgültig verbot und das Christentum zur Staatsreligion machte, bekannte sich wohl schon ein beachtlicher Teil der romanisierten Britannier zur neuen Religion. Aus den Schriften des spätantiken Dichters Ausonius kennt man etwa einen Beamten namens Flavius Sanctus, der eine Schwester der Frau des Ausonius geheiratet hatte. Vor allem aus der Polemik seiner theologischen Gegner kennen wir den mutmaßlich ebenfalls aus Britannien gebürtigen Mönch Pelagius, der mit seiner Ablehnung der Erbsündenlehre den Widerspruch des Kirchenlehrers Augustinus hervorrief.
Zur Bekämpfung des Pelagianismus begab sich 429 Bischof Germanus von Auxerre nach England, wo ihn die spätere Überlieferung mit dem Wirken des heiligen Patrick in Zusammenhang brachte. Dieser war seinen eigenen Worten zufolge der Sohn eines christlichen Diakons wohl aus dem Westen Britanniens, der von irischen Piraten auf einem ihrer Raubzüge verschleppt wurde, nach längerer Gefangenschaft aus Irland floh und dann als Missionar dorthin zurückkehrte – gerade wie in späterer Zeit Missionare aus Irland nicht nur auf dem Kontinent, sondern auch in Schottland, Wales und England tätig waren.
Das „Zeitalter der Heiligen“
Als sich die römischen Truppen im frühen 5. Jh. aus der Provinz Britannia zurückzogen, bestand das Christentum im keltischsprachigen Wales weiter. Noch heute bezeugen lateinische Lehnwörter im Walisischen wie z. B. cyffes „Taufe“ (confessio), ffydd „Glaube“ (fides) und bendith „Segen“ (benedictio) den Einfluss des römerzeitlichen Christentums auf die walisische Sprache. Als „Zeitalter der Heiligen“ galt späteren Generationen das 5. und 6. Jh., als mit dem Aufschwung der monastischen Bewegung in Westeuropa auch in Wales zahlreiche Klöster gegründet wurden. Ein Schüler des heiligen Germanus von Auxerre soll der heilige Illtud gewesen sein, dem die Legende die Gründung des Klosters Llanilltud Fawr (Llantwit Major) in Südostwales zuschreibt. Mit dem Südwesten von Wales ist dagegen die Gestalt des walisischen Nationalheiligen Dewi (David) verbunden, während der heilige Deiniol als Gründer des nordwalisischen Klosters Bangor gilt. Ein wichtiger Zeuge der religiösen und politischen Verhältnisse jener Jahre ist der um 500 geborene Mönch Gildas, der in seiner Schrift De Excidio Britanniae (Über die Verwüstung Britanniens) nach dem Vorbild der biblischen Propheten die Kriege seiner Zeit als göttliches Strafgericht infolge der Verfehlungen seiner Landsleute deutete. Zur gleichen Zeit, da das Christentum im Westen der britischen Hauptinsel sowie in Irland recht erfolgreich war, brachten die vom Kontinent zugewanderten Angeln, Sachsen und Jüten ihre traditionellen polytheistischen Religionen nach England. Dies bewog 596 Papst Gregor den Großen dazu, den Mönch Augustinus (nicht zu verwechseln mit dem Kirchenvater Augustinus von Hippo!) als Missionar zu König Æthelberht von Kent zu entsenden. Unterstützt von Æthelberhts Gemahlin Bertha, einer christlich getauften fränkischen Prinzessin, begründete die von Gregor initiierte Mission das angelsächsische Christentum in Südwestengland, mit Augustinus als dem ersten Erzbischof von Canterbury. Etwa um die gleiche Zeit wirkten irische Missionare in Nordengland, wo sie unter anderem von König Oswald von Northumbria unterstützt wurden. Da das religiöse Leben im angelsächsischen England infolge dieser unterschiedlichen Missionsbewegungen teils römischen, teils irischen Vorbildern verpflichtet war, kam es in der Folgezeit immer wieder zuKonflikten, die sich nicht zuletzt an den unterschiedlichen Gepflogenheiten bei der Berechnung des Ostertermins entzündeten. 664 entschied man diese Divergenzen auf der Synode von Whitby endgültig zugunsten der römischen Praxis, zu der sich nur wenige Jahre später auch die Waliser bekannten. Was wird aus den Göttern? Charakteristisch für den Umgang der christlichen Missionare mit den heidnischen Kulten ihrer Zeit war eine historische, nach ihrem griechischen Urheber Euhemeros auch euhemeristisch genannte Mythenerklärung. Ihr zufolge waren die Götter ursprünglich nur herausragende Menschen, denen die Menschen erst nach ihrem Tod aus Dankbarkeit für ihre Leistungen besondere Ehren erwiesen, woraus sich mit der Zeit der Götterkult entwickelt habe. Zu dieser Auffassung bekannte sich um 600 Bischof Isidor von Sevilla, dessen Werke man im Mittelalter viel benutzte. In Übereinstimmung damit erklärte auch Isidors älterer Zeitgenosse Martin von Braga, antike Gottheiten wie Saturn, Jupiter und Juno seien ursprünglich nur verdiente Menschen gewesen. Den Einfluss dieser Schriften auf das angelsächsische England veranschaulicht die in altenglischer Sprache abgefasste Homilie De diis falsis (Über die falschen Götter), in welcher der englische Benediktiner Ælfric auch die Götter der Angelsachsen als historische Personen deutete und Namen wie Donar (Thor) und Wodan (Odin) als alternative Bezeichnungen der antiken Götter Jupiter und Merkur auffasste. Weitverbreitet war im angelsächsischen England aber auch die Ansicht, dass der heidnische Götterkult nicht allein durch ein Missverständnis zu erklären sei, sondern auf das Wirken widergöttlicher Mächte zurückgehen müsse. Verantwortlich dafür, so schon der Kirchenschriftsteller Eusebius von Caesarea, seien letztlich Dämonen, die den Kult der vermeintlichen Götter dazu benutzten, die Menschen irrezuführen, um sie zum Bösen zu verleiten. Die Empfänger der heidnischen Opfer seien also in Wahrheit ebendiese Dämonen, die mit ihren Orakeln die Menschen zu verwirren suchen. Diese Vorstellung vom allgegenwärtigen Einfluss des Teufels und seiner Diener findet man in den Berichten über die Christianisierung Englands immer wieder. So zitiert der Mönch Beda in seiner Kirchengeschichte des englischen Volkes einen Brief Papst Gregors des Großen, in dem dieser die in England tätigen Missionare dazu aufforderte, nur die Kultbilder der heidnischen Angelsachsen zu zerstören, nicht aber deren Heiligtümer, die vielmehr durch das Versprengen von Weihwasser und die Niederlegung von Reliquien gereinigt und dann für den christlichen Kult genutzt werden sollten.
Blüte im 7./8. Jahrhundert
Zu welchen Leistungen die neue Religion das Kunstschaffen im angelsächsischen England inspirierte, zeigt in eindrucksvoller Weise das Evangeliar von Lindisfarne, das im frühen 8. Jh. im gleichnamigen Kloster entstand und heute in der British Library in London zu besichtigen ist. Zu den bedeutendsten Gelehrten jener Zeit gehört der Mönch Beda mit dem Beinamen „der Ehrwürdige“ (venerabilis), der in lateinischer Sprache neben der bereits erwähnten Kirchengeschichte auch hagiografische Schriften, Kommentare zu biblischen Büchern sowie Predigten verfasste. Mit welchem Erfolg sich die neue Religion aber auch in der volkssprachlichen Literatur auszudrücken verstand, veranschaulichen zahlreiche altenglische Werke in Dichtung und Prosa. So verfasste etwa der Dichter Cædmon im späten 7. Jh. nach einer Traumvision im Metrum der traditionellen germanischen Stabreimdichtung einen Hymnus über die Schöpfung, von dem indessen nur die ersten neun Zeilen erhalten blieben. Vielleicht schon im 8. Jh. entstand das unter dem Titel The Dream of the Rood bekannte Stabreimgedicht über eine Traumvision vom Kreuz Christi, und im 9. Jh. verfasste der geistliche Dichter Cynewulf vier Gedichte über die zwölf Apostel, das Martyrium der heiligen Juliana, die Auffindung des wahren Kreuzes durch die heilige Helena und die Himmelfahrt Christi. Vermutlich am Hof König Alfreds von Wessex entstand im späten 9. Jh. die sogenannte Angelsächsische Chronik, die zu den wichtigsten Quellen der politischen Ereignisse jener Zeit zählt.
Christliche Geschichtsschreibung
Im Gefolge der politischen und religiösen Veränderungen, die im 9. Jh. die Einfälle der Wikinger und mehr noch im 11. Jh. die Eroberung Englands durch die Normannen mit sich brachten, änderten sich indessen auch die Vorstellungen, die spätere Generationen sich von der Einführung und frühen Geschichte des Christentums in England machten. Lange Zeit blieben einige wenige in lateinischer Sprache verfasste Schriftquellen maßgeblich, darunter vor allem die bereits erwähnte Kirchengeschichte des englischen Volkes von Beda Venerabilis. Mit zunehmendem Abstand machten sich indessen auch immer wieder politische Ideologien sowie zeitgenössische kirchliche und theologische Debatten in der Beschäftigung mit dem römischen und angelsächsischen England bemerkbar. So verfasste um 1135 Geoffrey von Monmouth seine phantasievolle „Geschichte der Könige Britanniens“ (Historia Regum Britanniae), mit der er die Gestalt des Königs Arthur oder Artus in die Weltliteratur einführte. Nur wenig später begegnet die Vorstellung, das Christentum sei bereits im 1. Jh. durch Josef von Arimatäa in England eingeführt worden. Im Zeitalter von Elizabeth I. begründete der Gelehrte William Camden mit seinem erstmals 1586 erschienenen Werk Britannia die englische Altertumskunde, doch noch im 18. Jh. verfasste der anglikanische Geistliche William Stukeley bis heute einflussreiche Werke, in denen er die Religion der keltischen Druiden zu Vorläufern der anglikanischen Kirche seiner Zeit stilisierte. Um 1800 inspirierte die Legende, einst habe Jesus selbst als junger Mann in der Begleitung Josefs von Arimatäa England besucht, den Dichter William Blake zu seinem Gedicht And did those feet in ancient time. Es schließt mit dieser Strophe:
I will not cease from mental fight, Nor shall my sword sleep in my hand. Till we have built Jerusalem In England’s green and pleasant land. “Ich werde weder vom geistigen Kampf lassen Noch soll das Schwert in meiner Hand ruhen, Bis wir Jerusalem errichtet haben Auf Englands grünem und lieblichem Grund.” 1916 von dem Komponisten Hubert Parry vertont, gehört die seither unter dem Titel Jerusalem bekannte Hymne zum festen Repertoire der Last Night of the Proms, dem traditionellen Abschluss der Londoner Sommerkonzerte.