Henoch war bereits 65 Jahre alt, als er sein erstes Kind zeugte. Nicht weiter der Rede wert, wäre da nicht sein Sohn gewesen, der ihn bei Weitem übertraf: Mit 187 Jahren wurde dieser zum ersten Mal Vater und zeugte in den folgenden 782 Jahren noch zahlreiche Söhne und Töchter. Erst im Alter von sagenhaften 969 Jahren starb Methusalem, der älteste Mensch der Bibel. Und er war nicht der einzige Urmensch, der unvorstellbar lange lebte. Schon Adam kam auf 930 Jahre, sein Sohn Seth auf 912. Alle zehn Urväter bis Noah erreichten ein ähnlich "biblisches Alter". Dann kam die Sintflut. Gott zerstörte seine eigene Schöpfung bis auf einen kleinen Rest und startete das Projekt Schöpfung 2.0. Kurz zuvor hatte er noch beschlossen, dass die Menschen maximal 120 Jahre alt werden sollten, was halbwegs den biologischen Möglichkeiten seiner Kreatur entspricht.
In der Folge sank das Lebensalter, jedoch zunächst nur unwesentlich. Bis zu 600 Jahre alt wurden die Menschen fortan. Jakob und seine Söhne kamen nur noch auf knapp 200, und erst in der Zeit nach Moses näherte sich der biblische Mensch einem realistischen Alter: "Unser Leben währet siebenzig Jahre, und wenn es hoch kommt, sind es achtzig" (Ps 90). So zumindest steht es im Tanach, der Hebräischen Bibel, welche wir Christen das “Alte Testament” nennen. Fasziniert haben diese uralten Erzväter und ihre scheinbar unendliche Lebensspanne schon immer, wenngleich in der heutigen seriösen Bibelforschung weitgehend Einigkeit darüber besteht, dass dies dem qualitativen Duktus der alttestamentarischen Erzählungen in Bildersprache entspricht und keine historisch belegten Angaben sind.
Dennoch gehen die Meinungen der Theologen und Bibelexegeten bis heute auseinander, wenn es um die Auslegung dieser Angaben geht. Vorweg ist wichtig zu wissen, dass die Geschichte der Israeliten und ihr Verständnis von der Entstehung der Welt, der Genesis (1. Buch Mose), lange Zeit mündlich überliefert wurde. Die Erzählungen der Tora - die hebräische Bezeichnung der Fünf Bücher Mose - entstanden sehr wahrscheinlich zwischen 1000-500 v. Chr. in einem Jahrhunderte währenden Prozess, indem die in ihnen enthaltenen Gotteserfahrungen immer und immer wieder im Gebet geprüft wurden. Sie wurden auch nicht von einem einzelnen Autor namens Mose verfasst, sondern von einem Generationen übergreifenden Autorenkollektiv. Und sie sind auch nicht zeitlich nacheinander entstanden, so wie die heutige Anordnung in der Bibel vermuten lässt. So ist das Kapitel 2 der Genesis definitiv vor dem 1. Kapitel niedergeschrieben worden, was u.a. durch die Verwendung der Verben bara [בָּרָ֣א] und asah [עָשָׂ֖ה] belegt ist. Deshalb erfolgte die theologische Deutung und finale Niederschrift erst Jahrhunderte später. Wie erklären sich nun aber diese mythisch anmutenden Altersangaben?
Eine Auslegung der Bibelforschung geht davon aus, das bei den sogenannten Geschlechtsregistern, Mond- und Sonnenzyklen miteinander verwechselt worden seien. Ein Mondzyklus beträgt lediglich 8% der Länge eines Sonnenzyklus. Demnach entspräche das biblische Alter von Methusalem von 969 “Mondjahren”, 78,5 Lebensjahren. Klingt deutlich realistischer, wenngleich die durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen im antiken Orient im Allgemeinen zwischen 35-40 Jahren lag. Diese Erklärung hat aber einen gewaltigen Haken. Wendet man sie nämlich auf den eingangs erwähnten Henoch an, hätte er Methusalem bereits im zarten Alter von fünfeinhalb Jahren gezeugt. Einige Bibelforscher verweisen mit recht darauf, das Zahlen in der Bibel häufig auch einen symbolischen Wert haben. Die Zehn kommt aufgrund des in bereits in biblischen Zeiten in Israel verwendeten Dezimalsystems oft vor. Sie steht (ebenso wie die 5) für Vollständigkeit und Totalität. Im Gleichnis von den anvertrauten Pfunden werden zehn Pfunde, 10 Knechte und 10 Städte erwähnt. Es gibt 10 Gebote, 10 Plagen in Ägypten, den Zehnten, die 10 Jungfrauen und 10 Gewalten, die den Menschen nicht von der Liebe Gottes trennen können. Deutet man die Zahlen als Angaben in Zehnerschritten, wäre Adam 93 und nicht 930 Jahre alt und Methusalem 96 statt 969 Jahre alt geworden. Aber: auch bei dieser Deutung hätte Henoch seinen Erstgeborenen immer noch mit sechseinhalb Jahren gezeugt.
Will man die Bibel sowohl für sich selbst sprechen lassen als auch verständlich machen, sind religionsgeschichtliche Vergleiche unverzichtbar. Kaum zu übersehen - sofern kein ideologischer Kreationismus die Sicht blendet - sind die Parallelen zu den antiken orientalischen Vorstellungen über die babylonischen und sumerischen Urkönige, die nach deren Schöpfungsmythen bis zur großen Flut regierten. Der erste sumerische König Alulim [𒀉𒇻𒅆] soll 28.800 Jahre, sein Nachfolger Alalngar [𒀉𒋭𒃻] 36.000 Jahre und der letzte der Eridug-Dynastie immerhin noch 18.600 Jahre geherrscht haben. Den letzten Schliff könnte die Niederschrift der Genesis, in der die Altersangaben der Urväter vorkommen, durch eine Gruppe von Gelehrten erhalten haben, die nach der Eroberung Jerusalems durch König Nebukadnezar 50 Jahre im babylonischen Exil zubringen mussten. Es spricht vieles dafür und wenig dagegen, das sie dabei von den ihnen bekannten assyrischen, sumerischen und babylonischen Mythen beeinflusst wurden.
Wenn man die biblische (nicht historische!) Zeitrechnung zugrunde legt, dann erfolgte der Auszug der Israeliten aus der ägyptischen Sklaverei im Jahr 2666 nach der Schöpfung. Da nun aber lediglich zehn Urväter bis zur - biblisch auf 1656 datierten - Sintflut verteilt werden mussten, darf mit einiger Berechtigung vermutet werden, das mit den hohen Altersangaben notgedrungen auch genealogische Lücken überbrückt wurden. Zu berücksichtigen ist auch, dass in der jüdisch-biblischen Tradition die Ehrung der Alten eine große Rolle spielt. Vermutlich ging es letztlich auch darum, die Bedeutung und Weisheit dieser Erzväter durch die lange Lebensspanne besonders hervorzuheben. Denn ein langes Leben galt im Judentum nicht zuletzt als Lohn, den die Gerechten empfingen. Schließlich starb Methusalem, der Nestor unter den Erzvätern und Großvater Noahs vor der Sintflut und blieb so von der Strafe Gottes verschont.