Die Frage, welche Rolle das Judentum im Denken von Paulus spielt, ist auch unter Theologen umstritten. Allerdings sollte man auch nicht vorschnell urteilen und die Bibel mit einem kritischen Geist auslegen. Manche problematischen paulinischen Aussagen (1.Thess 2,14-16) lassen sich vielleicht auch mit historischen Auseinandersetzungen und enttäuschenden Erfahrungen mit bestimmten jüdischen Zeitgenossen erklären. Nachfolgend drei Aspekte, die das Thema bei Weitem nicht vollständig erfassen, aber Anregungen für weiteres Nachdenken bieten.
1. Paulus wurde als pharisäischer Jude geboren (Gal 1,13f.) und versteht sich sein Leben lang als Apostel für die Heiden aus Israel. Paulus hielt an seiner Zugehörigkeit zum jüdischen Volk zeitlebens fest. Sein Glauben an Jesus und dessen Auferstehung hat ihn zwar grundlegend verändert. Er maß fortan der Beschneidung oder Speisegeboten keine Heilsrelevanz mehr zu und glaubte, dass auch Nichtjuden in den göttlichen Bund aufgenommen werden sollen. Aber Paulus ist nicht zum „Christentum“ übergetreten und hat sich auch nicht „antisemitisch“ geäußert. Beide Begriffe gab es zu der Zeit noch nicht. Den rassistischen und pseudowissenschaftlichen „Antisemitismus“ gibt es erst seit dem 19. Jahrhundert. Am besten ist es, wenn man die Äußerungen von Paulus als theologische Frage nach dem „Heil für Israel“ versteht. Konkret: Was bedeutet es für das Gottesvolk Israel, dass mit Jesus der Messias gekommen ist, der für alle Menschen gestorben und auferstanden ist? Paulus selbst hat dabei nicht die eine Lösung, sondern beleuchtet verschiedene Aspekte des Problems in seinen Briefen.
2. Eine eindeutige Position zum Verhältnis von Kirche und Israel gibt es in den Paulusbriefen nicht. Er argumentiert zuweilen widersprüchlich und erarbeitet verschiedene Lösungswege, wozu auch negative Aussagen gehören. Die ausführlichsten Gedanken zum “Heil für Israel” der spannungsreichen paulinischen Theologie finden sich in den Kapiteln 9-11 des Römerbriefes. Schon zu Beginn zeigt sich, dass Paulus die Jüdinnen und Juden in seine Theologie selbstverständlich aufnimmt, denn das Evangelium „ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die glauben, die Juden zuerst und ebenso die Griechen.“ (1,16). Das große Problem, das Paulus sieht, ist, dass es manche Juden gibt, die nicht an Jesus glauben und seine Lehre und die beschneidungsfreie Mission der Heiden ablehnen. Für ihn ist das aber ein vorübergehendes Problem, nicht das endgültige Ziel im göttlichen Plan für ganz Israel. “Es wird kommen aus Zion der Erlöser; der wird abwenden alle Gottlosigkeit von Jakob.“ (11,16). Interessanterweise sagt gerade nicht, dass dieser Erlöser Jesus ist oder dass sich alle Juden zu Jesus bekehren müssen. Wie und wann genau Israel errettet wird, lässt Paulus offen.
3. Die christliche Auslegung von Paulus hat lange gebraucht, um diese neue Perspektive zu entwickeln. Die lange Phase einer antijüdischen oder sogar antisemitischen Paulusauslegung darf keinen Platz mehr im christlichem Denken haben. Die Vorstellung der Verwurzelung der christlichen Kirchen im Judentum gehört zum zentralen christlichen Selbstverständnis des heutigen Protestantismus. Dazu gehört, Jesus und Paulus als Juden ernst zu nehmen und daran festzuhalten, dass Christen auch immer auf den Bund Gottes mit seinem Volk angewiesen sind. Dazu gehört auch, sich ebenso von den antijüdischen Aussagen Martin Luthers abzugrenzen, wie auch das Eintreten dafür, ihn nicht auf eine Schrift von 1542 zu reduzieren. Deshalb hat auch das Alte Testament seinen festen Platz in der christlichen Bibel. Nur mit dieser Grundüberzeugung kann ein jüdisch-christlicher Dialog gelingen.