In den monotheistischen Weltreligionen gibt es eine starke Verbindung zwischen Gott und der Hilfe in kritischen Lebenssituationen. Gott wird als Instanz gesehen, von der Menschen Unterstützung, Hilfe und durchaus auch Heilung in existenziellen Lebenskrisen bekommen können. Diese Überzeugung gehört zur Tradition vieler Religionen, aber es entspricht auch der Erfahrung mancher Menschen, dass sie göttliche Unterstützung in Krisen erfahren – auf sehr unterschiedliche Weise. Dies entzieht sich allerdings jeder wissenschaftlichen Untersuchung, denn die göttliche, jenseitige, „transzendente“ Dimension ist sozialwissenschaftlich nicht zugänglich. Auch wenn manche Studien ergeben, dass schwer erkrankte Menschen, für die gebetet wird, rascher gesundwerden als andere, ist damit weder Gott noch die unmittelbare Wirkung des Gebets bewiesen. Zudem ist es ja nun keineswegs so, dass religiöse Menschen nicht in Krisen geraten oder aus diesen immer rasch wieder herauskommen. Die Erfahrung, dass der Glaube an einen helfenden Gott nicht vor Leiden schützt, ist ja eine der großen Herausforderungen für den Glauben und auch für die Theologie als Nachdenken über die Fragen des Glaubens.
Diese Frage nach dem Zusammenhang von Glauben und Krise gibt es übrigens auch schon an verschiedenen Stellen in der Bibel. Wir finden dort die Vorstellung vom so genannten Tun- Ergehen-Zusammenhang, was meint: Auch wenn die Menschen, die an Gott glauben und moralisch gut leben, mal von einer Krise getroffen werden, ist diese nur vorübergehend, denn letztlich wird gutes Verhalten und fester Glaube belohnt und das Gegenteil bestraft. Und gleichzeitig gibt es an anderen Stellen der Bibel einen deutlichen Widerspruch dagegen. Das bekannteste Beispiel dafür dürfte die Erzählung von Hiob sein, dessen Gottesglauben und dessen Lebensführung als vorbildlich geschildert werden und den dennoch schlimmstes Leid trifft. Aber auch im tiefsten Leid besteht Hiob darauf: Mein Leid ist keine Strafe Gottes, dieses Weltbild stimmt nicht. Hiob teilt die Vorstellung von Gott als einem strafenden Richter nicht, sondern er geht in die Auseinandersetzung mit ihm. Darauf reagiert Gott in interessanter Weise: Zum einen macht er deutlich, dass Hiob recht hat: Krisen werden nicht als Strafe von Gott geschickt, weil Menschen sich falsch verhalten. Zum Zweiten sagt er, dass der Mensch Hiob schon ein wenig anmaßend ist, wenn er erwartet, dass Gott nach menschlicher Logik funktioniert – denn wir Menschen können diese Fragen im hiesigen Leben nicht wirklich verstehen. Und zum dritten löst Gott dann doch die Krise auf und Hiob erhält sein gutes Leben zurück.
Die Frage sollte also nicht Hilft Gott in der Krise? lauten, sondern Hilft der Glaube?. Zugänglich ist den Menschen nicht die Existenz und Wirkungsweise Gottes, sondern die Wirkungen von Glaubensinhalten im Leben und hier vor allem in Lebenskrisen. Anders formuliert: Ist Glaube, Religion bzw. Spiritualität eine hilfreiche Ressource im Umgang mit Krisen?
1. Religiöse Netzwerke als soziale Unterstützung
Religiöse Menschen leben auch außerhalb ihrer spezifischen Glaubensgemeinschaft stärker in sozialen Netzwerken als andere. Ihre Empathie- und Kommunikationsfähigkeiten sind ausgeprägter als bei nicht-religiösen Menschen. In Krisen bilden soziale Netzwerke eine wichtige Ressource. Sie bieten Trost und Anteilnahme. Das Gefühl von Integration, sozialer Eingebundenheit und Zugehörigkeit kann Belastungen auffangen und dem Gefühl entgegenwirken, mit dem Problem auf sich allein gestellt zu sein. Gerät der Glaube angesichts der Krise selbst in eine Krise, kann die Gemeinschaft Impulse für seine Weiterentwicklung geben. Die Gefahr religiöser Gemeinschaften ist der mögliche soziale Druck, der von ihnen ausgehen kann. Die Person kann in eine bestimmte religiöse Interpretation der Krise gedrängt werden, die eher schadet als nützt. Im Extremfall einer sektenähnlichen Gemeinschaft kann die Mitgliedschaft in ihr die sonstige gesellschaftliche Isolation bedeuten.
2. Religion als Quelle alternativer Werte
Religion kann in Krisen eine Orientierungsfunktion übernehmen, indem sie auf letztgültige Werte verweist. Zum einen kann dies helfen, sich weniger auf die individuelle Ungerechtigkeit des eigenen Leids zu fokussieren, ohne dies dabei weniger ernst zu nehmen. Zum anderen kann die Orientierung an einer spirituellen Größe der gesellschaftlichen Norm von Druck und Erfolg etwas entgegensetzen. Viele Religionen betonen die Würde von Leidenden und Schwachen. Diese Werte können die Bewältigung von Krisen, in denen man sich in der Regel eher schwach empfindet und die die Leistungsfähigkeit meist stark beeinträchtigen, unterstützen. Sie bilden ein Gegengewicht zu gesellschaftlichen Mustern der Abwertung von Schwäche.
3. Impulse für die Alltagsgestaltung
Manche Religionen haben bereits in sich Vorgaben für die Tagesstruktur wie Gebetszeiten, Rituale, Körperpflege, Ruhezeiten, Ernährung oder Abstinenz. In jedem Fall enthalten sie ein Reservoir von Möglichkeiten, dem Leben Struktur und damit Halt zu geben, wenn es durch eine Krise aus der Bahn geworfen wird. So können regelmäßige Gebets- oder Meditationszeiten hilfreich sein, das Schreiben eines Dankbarkeitstagebuches, Spaziergänge mit bewusster Achtsamkeit für die Schöpfung, ein Tagesresümee etc. Sie können als heilsame Unterbrechungen verstanden werden, die die aktuelle Krise transzendieren und sie nicht mehr das komplette Leben bestimmen lassen. Ein Set von Traditionen aus der Bibel und der christlichen Tradition bieten Impulse von emotionalem Trost bis zu einer konkreten Handlungsanweisung. Sie stellen zudem Sprachbilder bereit, die man übernehmen kann, wenn einem eigene Worte fehlen.
4. Glaube zwischen Selbstwert und Abhängigkeit
Der Glaube an einen Gott oder eine göttliche Macht kann das Bewusstsein des eigenen Selbstwerts stärken, wenn das Gottesbild von unbedingtem Angenommensein und fürsorglicher Liebe geprägt ist. Oft wird das Selbstwertgefühl durch die Krise geschwächt und steht damit als Krisenbewältigung nicht mehr zur Verfügung, was dann eine emotionale Abwärtsspirale hervorrufen kann. Der Glaube an eine Größe, die einen bedingungslos annimmt, ist dann eine wichtige Ressource. Und gleichzeitig geht der Glaube an eine göttliche Realität einher mit dem Bewusstsein, dass man als Mensch nicht das Maß aller Dinge ist, sondern relative Handlungsspielräume besitzt. Er fördert eine Haltung, die neben der aktiven Gestaltung des Lebens auch den Modus des Aushaltens und des Empfangens kennt. Die Erfahrung der Krise, dass etwas auf einen zukommt, das man nicht gewählt hat, das jedoch das Leben bestimmt, ist möglicherweise leichter auszuhalten, als wenn man sich sonst durchgehend als aktiv gestaltend erlebt hat.
(Auszüge aus einem Vortrag von Prof. Dr. Uta Pohl-Patalong, 2021)