Wenn das Christentum verschwindet,
19.11.2025 ... verschwindet mit ihm auch der Westen
Westliche Werte sind weitestgehend christliche Werte. Umso wichtiger wäre ein Aufstieg des Kulturchristentums als Bewahrer ebendieser Werte, ohne die es keine freie Gesellschaft geben kann. Es muss auch niemand in die Kirche eintreten.
Der Westen steckt in einer Krise und die Frage ist, wie er da wieder herauskommt. Ich weiß es auch nicht im Detail, aber vermutlich wäre eine Besinnung auf die eigenen Stärken ein guter Anfang. Was konkret heißt: Er muss wieder christlich werden. Ja, das mag so manchen Leser irritieren, aber ich kann all die Millionen Menschen beruhigen, die längst aus der Kirche ausgetreten sind: Da muss niemand wieder rein, der schon raus ist. Christlich werden bezieht sich auf die Selbstbezeichnung als Kulturchrist. Uns ist das Wissen verloren gegangen, dass unsere westlichen Werte weitestgehend christliche Werte sind. Tatsächlich hat diese Religion einige beeindruckende Erfolge vorzuweisen: Sie gründete die ersten Universitäten, verbot die Ehe unter nahen Verwandten, predigte Vergebung statt Rache, baute prachtvolle Kathedralen und prägte nebenbei noch unser Gefühl für Ästhetik. Ach ja, und ohne Christentum auch keine universellen Menschenrechte und damit kein Artikel 1 des Grundgesetzes, dass die Würde des Menschen unantastbar ist – keine schlechte Bilanz nach 2.000 Jahren Christentum.
Diese Verdienste werden auch nicht dadurch geschmälert, dass es daneben auch reichlich Verbrechen im Namen der Kirche gab. Verbrechen sind keine christliche Besonderheit, sondern der weltgeschichtliche Normalfall, während die oben erwähnten Ideen tatsächlich einzigartig sind. Dschingis Khan, Kaiser Nero oder der Aztekenkönig Tizoc hinterließen allesamt Leichenberge, aber keinen Wertekanon, der lehrt, dass jeder Mensch gleich viel wert ist. Die europäischen Aufklärer übernahmen schließlich die kirchlichen Moralvorstellungen, kritisierten aber gleichzeitig umso lauter die real existierende Kirche. Sie gingen dabei so geschickt vor, dass viele Menschen bis heute denken, die Aufklärung hätte uns die liberalen Freiheiten im unerbittlichen Kampf gegen das Christentum erstritten. Dabei hat sie die „christlichen Werte“ lediglich in „universelle Werte“ umgewidmet und die Vergangenheit Europas kurzerhand zum „finsteren Mittelalter“ erklärt, damit möglichst keinem der eigene Taschenspielertrick auffällt. Aber das ist lange her und spielt an dieser Stelle auch keine weitere Rolle.
In unserer Zeit jedenfalls sind die Kirchen leer und das Christentum in atemberaubendem Tempo auf dem Rückzug. Andere Weltanschauungen treten an ihren Platz in Gesellschaft und Stadtbild und genau da beginnt das Problem. Wenn das Christentum verschwindet, verschwindet mit ihm auch der Westen. Umso wichtiger wäre ein Aufstieg des Kulturchristentums als Bewahrer unserer westlichen Werte, ohne die es keine freie Gesellschaft geben kann. Sie sind noch nicht überzeugt? Dann würde ich Ihnen gerne Richard Dawkins vorstellen. Er ist der berühmteste Evolutionsbiologe der Welt, der außerdem auch als wortgewandter Atheist von sich reden machte. Seine religionskritischen Werke tragen Titel wie „Der Gotteswahn“ oder „Die Schöpfungslüge“ und sind globale Bestseller geworden. Dieser Richard Dawkins sagt über sich: „Ich bin ein kultureller Christ.“ Ihm ist diese Erkenntnis gekommen, während er in seiner Heimat Großbritannien den Aufstieg des Islams erlebte, dessen Wertvorstellungen sich in wesentlichen Punkten von denen des Christentums unterscheiden. Dawkins gehört damit zu jenen Menschen, die zwar nicht an Gott glauben, sehr wohl aber an die Werte, die jene geschaffen haben, die genau das tun. Insgesamt findet gerade dort, wo in Europa der Islam mittlerweile das Leben der Menschen mitprägt, eine Rückbesinnung statt. Tatsächlich ist der Islam eine Herausforderung für den Westen, da er dessen Werte ablehnt. Ein Blick in die „Kairoer Erklärung der Menschenrechte“ lässt in dieser Hinsicht wenige Fragen offen. Die universellen Menschenrechte haben hinter der Scharia zurückzustehen, heißt es darin. Die Abkehr vom Islam (und nur von ihm) wird bestraft, Körperstrafen sind erlaubt. Kurzum: Die Würde des Menschen ist plötzlich Verhandlungssache, sie ist nicht mehr absolut. Damit wird die Idee begraben, dass alle Menschen über unteilbare Grundrechte verfügen.
Es gibt aber nicht nur den Islam als Gegenspieler westlicher Werte. Er wird auch von der Linken bedroht, die seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion keine Chance mehr hat, die Welt im eigenen Sinne zu prägen. Darum sinkt sie zunehmend auf das Niveau antiwestlicher und antisemitischer Extremisten ab. Ihr Beitrag erschöpft sich immer mehr darin, dem Westen den Untergang zu wünschen, sich mit dessen Feinden zu verbünden und ihn selektiv für vergangene Verbrechen anzuklagen. Auch gegenüber dieser gescheiterten Ideologie sollte man wissen, was man verliert, wenn man ihr nachgibt. Da sie umso erfolgreicher ist, je weniger die Menschen wissen, wofür der Westen eigentlich steht, sollte die Beschäftigung mit den eigenen Werten und Wurzeln unbedingt mehr Raum in unserer Zivilisation einnehmen. Kulturchristentum ist dabei ein säkulares Bekenntnis zum freien Westen. Was es zugleich nicht ist, ist eine Kampfansage an Linke oder Moslems, die Teil des Westens sein wollen. Dieser ist schließlich auch deswegen so erfolgreich, weil sich ihm jeder anschließen kann. Dafür reicht es schon, dem Individuum den Vorzug vor dem Kollektiv zu geben, schon hat man das Ticket in diese Zivilisation gelöst. Es lohnt sich, diese Werte in einer Welt rivalisierender Kollektivideen wie dem chinesischen Kommunismus, der venezolanischen Kleptokratie oder dem iranischen Islamismus zu verteidigen. Wo der Einzelne nur noch ein Rädchen im Getriebe ist, ist die Unmenschlichkeit zu Hause. Wer das nicht will, sollte noch heute in die Kirche eintreten oder Kulturchrist werden – beziehungsweise verstehen, dass er das schon die ganze Zeit über war. In diesem Sinne: Amen und Sapere aude [“Wage es, weise zu sein”, Kant].


